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Am Anfang ist das Bonbon

■ Für Frischlinge: Sauftouren am Prenzlberg und ein Revival neuer alter Riten

Erleichtert läßt sich Irene am „Beratungstisch“ nieder, den die Fachschaftsinitiative Germanistik in der Rostlaube der Freien Universität plaziert hat. „Ich verlaufe mich immer noch ständig“, seufzt die 20jährige Studentin. Dann zieht sie den Entwurf ihres Stundenplans aus der Tasche und sucht Rat, wie viele Seminare ins erste Semester passen.

Scharen von Studienanfängern irren durch die labyrinthischen Gänge der Berliner Universitäten, unermüdlich auf der Suche nach den Bibliotheken, der Mensa und jemandem, der ihnen die Studienordnung erklärt. Die Erstsemesterwochen, die inzwischen fast jeder Fachbereich veranstaltet, helfen bei der Orientierung: Ältere Studenten organisieren Feten, zeigen den Anfängern den Campus und erklären ihnen die Uni-Bürokratie. Vor allem haben die Neuen die Möglichkeit, einander kennenzulernen. Die Germanisten an der FU treffen sich auf einer Sauftour durch Kneipen am Prenzlauerberg, Chemiker und Juristen veranstalten Rallyes, bei denen Studienanfänger in ein Labor eindringen oder herausfinden müssen, wo man eine Copycard erhält. Die Gruppen finden sich, indem jeder ein Bonbon aus einer Tüte zieht – wer dieselbe Sorte bekommt, gehört zusammen. „Die Studenten, die erst nach der Orientierungswoche anreisen, stehen schon ein bißchen draußen“, sagt Hans-Werner Rückert, Leiter der zentralen Studienberatung. In Lehrveranstaltungen oder in der Mensa ist es schwierig, andere kennenzulernen: „Alle machen kluge Gesichter, und die Neuen fühlen sich wie die letzten Deppen.“

Im Berliner Westen wurden die erstarrten Initiations- und Abschlußriten an den Universitäten von der Studentenbewegung abgeschafft. Die Humboldt-Universität dagegen macht noch heute zum Semesterauftakt eine hochoffizielle Immatrikulationsfeier. Die Leitung der Technischen Universität überlegt nun, eine ähnliche Feier wiedereinzuführen. Auch der Abschied von der Uni – für die meisten Absolventen schlicht ein Gang ins Sekretariat, wo ihnen eine unschöne Urkunde ausgehändigt wird – wird an einigen Fachbereichen der TU wieder festlich begangen: Die Diplomanden der Wirtschaftswissenschaften feierten Ende 1995 schon zum dritten Mal mit Kammermusik, Reden und Sektempfang im Lichthof der TU. Die Physiker taten es ihnen vor kurzem nach. Ihr Dekan, Professor Siegfried Hess, möchte eine „neue Tradition“ schaffen: „Aber ich habe die Zeit der Talare noch miterlebt, es soll nicht so werden wie vor dreißig Jahren.“

Auch an der FU sucht man den goldenen Mittelweg zwischen muffigem Zeremoniell und bürokratischer Trostlosigkeit. Den Anfang machte 1993 eine Studenteninitiative der Wirtschaftswissenschaftler, ein Jahr später führte das Dekanat der Politologen eine Abschlußfeier ein. Zwei Drittel der Diplomanden lassen sich ihre Urkunden jetzt feierlich überreichen. „So etwas ist ein Markierungspunkt im Leben“, erklärt Hans- Werner Rückert. Andere Fachbereiche wollen nun auch feiern: So wünschen sich die Germanisten einen festlichen Abschied. „Es muß ja nicht mit Riesenaufmarsch und Uni-Chor sein“, sagt die studentische Beraterin Andrea Syring. „Nur, daß es nicht ganz so lieblos wirkt wie jetzt.“ Miriam Hoffmeyer

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