: Dauerpatient Ostsee
Regierungskonferenz der Ostseestaaten zieht Bilanz: Die vor zehn Jahren verkündeten Umweltziele sind alle verfehlt worden ■ Aus Visby Reinhard Wolff
Es geht nur langsam voran mit der vielbeschworenen Gesundung der Ostsee. Viel langsamer, als sich das die Regierungschefs der Ostseestaaten vor zehn Jahren vorgestellt hatten. Wenn sie sich an diesem Wochenende in Visby auf der schwedischen Insel Gotland wieder zum gleichen Thema zusammensetzen, dann hat kein Land das damals gesetzte Ziel, die Düngemittel-, Schwermetall- und Giftleitungen in die Ostsee gegenüber 1985 zu halbieren, erreicht. Die meisten der damals lokalisierten 132 „Hot Spots“ konzentrierter Umweltgifte sind auch jetzt noch heiß.
Aus der landwirtschaftlichen Produktion in Deutschland und Schweden ging der Stickstoffeintrag in die Ostsee nicht um die Hälfte, sondern nur um 25 bis 30 Prozent zurück. Und das Wenige, was eingespart wurde, ist wettgemacht worden durch neue Erkenntnisse nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Ostseestaaten. Es stellte sich unter anderem heraus, daß die Stickstofflast der polnischen und baltischen Flüsse doppelt so hoch war, wie vor zehn Jahren angenommen.
Die Ausgangswerte der Helsinkikommission könne man im wesentlichen wegwerfen, so Professor Anders Grimwall von der Universität im schwedischen Linköping, der mit einer ForscherInnengruppe eigene Untersuchungen anstellte: Der Nitratgehalt im Flußsystem der Weichsel ist fast doppelt so hoch, wie polnische Analysen behaupteten. Im Baltikum hat der Fluß Neman sogar einen zehnfach höheren Nitratgehalt, als in den offiziellen Statistiken festgehalten.
Und auch in Zukunft wird es langsam gehen: Trotz geänderter Anbaumethoden mit vermindertem Kunstdüngereinsatz in der Ex- DDR, Polen und dem Baltikum wird die Ostsee erst in Jahrzehnten wieder durchatmen können. „Selbst wenn man jetzt jede Kunstdüngereinbringung stoppen würde“, sagt Professor Grimwall, „würde es zehn Jahre dauern, bis sich der Stickstoffaustritt vom Boden in die Gewässer auch nur halbiert hätte. So langsam funktioniert das.“
In Zahlen: Die Stoffe, die im Wasser biochemisch Sauerstoff entziehen, gingen zwar von 300.000 auf 200.000 Tonnen zurück, der Stickstoff- und Phosphoraustritt liegt aber insgesamt auf dem selben Niveu wie vor zehn Jahren.
Was Rußland betrifft, geht alles noch viel langsamer. Vor allem einer der alten Hot Spots ist noch alarmierender geworden: Die Abwässer der Sieben-Millionen-Stadt Sankt Petersburg fließen weiterhin fast ungeklärt in die Ostsee. Hinzu kommt eine eher noch ansteigende Dreckfracht aus industriellen Quellen. Hat man mit Hilfe westlicher Gelder in den letzten Jahren bei einem Fünftel der 30 Sanierungsprojekte höchster Dringlichkeit mit dem Bau von Kläranlagen begonnen, tut sich in Sankt Petersburg noch gar nichts. „Gerade hier“, beklagt Ulla-Britta Fallenius vom schwedischen Naturschutzamt, „werden keine politischen Beschlüsse gefaßt und keine eigenen Gelder bereitgestellt“.
Grundsätzlich ist die Finanzierung ein ungelöstes Problem. Im Prinzip liegen westliche Hilfsgelder bereit. Doch verlangen die westlichen Ostseeanliegerstaaten und die internationalen Investitionsbanken von den baltischen Ländern, Rußland und Polen staatliche Garantien, wie sie bisher in erster Linie für neue Industrieinvestitionen abgegeben werden. Umweltprojekte gelten als zweit- bis drittrangig. Ein System, die Kläranlagen teilweise über von den Kommunen erhobene Abwassergebühren zu finanzieren, wie im Westen üblich, wird in Polen gerade erst aufgebaut. Im Baltikum und in Rußland sind solche Abgaben unbekannt, und es fehlen gesetzliche Grundlagen, sie einzuführen.
Eine schwedische ForscherInnengruppe kann die Konferenz in Visby noch mit einem neuen Umweltalarm versorgen. Aus Lettlands größtem Fluß, der Daugava, gehen jährlich 50 bis 150 Kilogramm polychlorierte Biphenyle (PCB) in die Ostsee. PCB sind schon in geringen Mengen gefährliche Umweltgifte, die zu einer Veränderung der Erbanlagen bei Tieren und Menschen führen können. Seit den siebziger Jahren sind sie in den westlichen Industrieländern verboten – sie waren auf dem besten Weg, ganze Fischarten in der Ostsee auszurotten.
Woher die BCP in der Daugava kommen, ist den lettischen Behörden angeblich nicht bekannt. Sie wollen auch nicht wissen, warum die Luft über der lettischen Hauptstadt Riga zehn- bis zwanzigfach höhere PCB-Werte aufweist als der Durchschnitt der Ostsee. Der PCB-Gehalt in der Rigabucht ist mittlerweile dramatisch angestiegen und in dort gefangenen Fischen nachweisbar. Für den Biochemiker Anders Olsson von der Universität Stockholm eine lokale Verunreinigungsquelle, die „Bedeutung für die ganze Ostsee“ gewinnen könne.
Die Regierungschefs dürften in Visby vor allem die sicherheitspolitische Lage im Ostseeraum diskutieren. Das Umweltthema droht aufs Abstellgleis unverbindlicher Erklärungen geschoben zu werden. EU-Parlamentarierin Claudia Roth – die europäischen Grünen treffen sich zeitlich mit den Regierungschefs auf Gotland –: „Dabei handelt es sich bei Sicherheit doch gerade um Umweltpolitik.“
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