"...und der würde sagen: ,Arschloch...+"

■ "Ich spüre, daß ich den Leuten hinterher nicht noch einmal begegnen möchte", sagt der Reporter und Kisch-Preisträger Alexander Osang. Ein Gespräch über Selbstzweifel und sein neues Buch, über Klass

taz: Herr Osang, wenn man Ihre Reportagen heute liest und sie mit Ihren früheren vergleicht, könnte man denken, daß Ihre eigene Meinung immer schwerer zu finden ist.

Alexander Osang: Vieles passiert schleichend. Manches passiert auch ganz bewußt. Dieses Kämpferische, das ich noch in dem Buch „Das Jahr eins“ hatte, wollte ich nicht mehr. Ich habe damals viele Sachen mit Schaum vor dem Mund geschrieben und auch vorschnelle Urteile getroffen. Damals war die Welt für mich in Schuldige und Nichtschuldige eingeteilt. Je mehr ich die Welt in den letzten Jahren kennengelernt habe, um so mehr habe ich festgestellt, daß vieles nicht so einfach ist, wie es auf den ersten Blick aussieht! Ich hatte früher viel weniger Selbstzweifel. Neulich hat mir auch ein Freund gesagt, daß er das erste Buch von mir am besten findet. Ich glaube, daß das Buch, das ich jetzt gemacht habe, mein bestes ist. Aber das sage ich, der Zombie, der Mutierte oder was auch immer. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Außer daß ich genauer werden möchte und nicht mehr so klassenkämpferisch.

Wollen Sie objektiver sein?

Nein, nein, das geht ja gar nicht. Objektiv kann man nicht sein. Die Objektivität geht schon bei der Themenwahl verloren. Die Reportage ist das subjektivste Genre, was es gibt. Sie verlangt die ganz persönlichen Sinne des Autors. Alles ist nur durch meine Erfahrungen gebrochen, durch meine Augen gesehen, durch meine Nase gerochen, die ganz verschiedene Gerüche kennt, und durch meine Ohren gehört, die schon tausend andere Sachen gehört haben. Und das alles ist so subjektiv, subjektiver geht es gar nicht.

Was interessiert Sie an Ihren Reportagen am meisten?

Da fallen mir nur solche kitschigen Antworten ein wie: die Menschen. Mich interessieren und begeistern diese anderen Leben und diese ganz anderen Erfahrungen. Mitunter fasziniert mich auch der Gedanke, wie die Leute überhaupt überleben können in Konstellationen, in denen ich aus dem Fenster springen würde. Wo ich sagen würde, das kann doch nicht der Sinn des Lebens sein. Überhaupt null Erkenntnis gewinnen und im Prinzip nur noch durchkommen. Dabei ist Durchkommen ja ein legitimes Lebensprinzip.

Haben die beobachteten Erfahrungen, die Sie ja nicht selbst erlebt haben, auch einen Einfluß auf Ihr eigenes Leben?

Alle Erfahrungen von da draußen kratzen an meinem Lack, an dem Lack der Zufriedenheit. Manchmal ist es gerade zu Beginn einer Recherche so, daß ich spüre, daß ich eigentlich nicht in ein anderes Leben eindringen will. Sagen wir mal, ich fahre in irgendein Dorf und komme da mit dem Auto an. Da sitze ich dann im Auto und komme nicht raus aus dem Auto, weil ich einfach Angst davor habe, in eine andere Welt einzudringen. In diesem Moment erscheint mir der Gedanke, zurück in die Redaktion zu fahren oder irgendwo mal schnell etwas essen zu gehen, viel verlockender. Am Anfang ist es immer besonders schlimm. Wenn man das erste Mal an eine fremde Tür klopft mit der Furcht im Bauch, daß jemand fragt: „Was wollen Sie denn hier?“ Da trinke ich vorher immer zehn Tassen Kaffee und rede mir ein: Du mußt erst mal die Straße erkunden, überhaupt alles in der Gegend und trinkst dann hier oder da noch 'ne Cola. Diesem Spiel muß man sich immer wieder aussetzen. Ansonsten verliert man den Draht, geht nicht mehr raus und driftet dann voll in seine Welt ab. Guck doch mal, ich lebe in einer ganz anderen Welt als die Leute da draußen.

In welcher Welt leben Sie denn?

In der Welt einer Zeitungsredaktion, die ein völlig eigenes Wertesystem, unabhängig von den Leuten da draußen entwickelt. Es gibt zwar ab und an Leserbefragungen, aber so richtig vertraut hat ihnen noch keiner. Wenn ich manchmal höre, wie Titelgeschichten gemacht werden, überläuft mich das kalte Gruseln. Weil irgendein Enkelsohn des Chefredakteurs Guns N' Roses gut findet, muß jetzt plötzlich die große Guns- N'-Roses-Story gemacht werden. Oder sonst was, das ihm beim Kacken eingefallen ist. So ähnlich funktioniert das auch in einer Redaktion. Da gibt es bestimmte Erwartungshaltungen und Geschmäcker. Wenn der Chefredakteur ein großer Opernfan zu sein scheint, werden eben Opernthemen gemacht, und auf den Leser wird geschissen. So hat das auch zu DDR-Zeiten funktioniert.

Wie reagieren die Porträtierten auf Ihre Beschreibungen?

Es gibt negative Reaktionen, aber nur wenige. Es ist so, daß ich keine Kritik einhole. Es gibt da eine gewisse Scheu. Ich spüre auch, daß ich den Leuten nicht noch einmal begegnen möchte.

Haben Sie Angst, den Leuten zu nahe zu kommen?

Irgendwie ist das Verrat, den man an diesen Leuten begeht. Zuerst dringe ich in ihr Leben ein, komme ihnen relativ nahe, bewege mich im Idealfall auf einer sehr intimen Ebene. Danach falle ich wieder aus ihrer Welt heraus. Setze mich an einen Computer, wähle aus, schreibe aus einer ganz anderen Welt. Dann komme ich mit diesem Produkt, dem Artikel. Da empfinde ich schon jedesmal so etwas wie Verrat. Für den Leser ist das letztlich so: Das hier ist dieser oder jener Mensch. Genau so ist der. Eigentlich geht das nicht. Derjenige, den es betrifft, wird mit diesem Problem allein gelassen. Wenn ich dem auf der Straße begegnen würde, würde ich dem natürlich die Hand schütteln und ihn fragen: „Und...?“ – und der würde sagen: „Arschloch...“ Ich suche nicht mehr die Nähe zu den Leuten. Das ist mir unangenehm.

Wie fühlen Sie sich nach einer Kritik?

Schlecht. Ich bin ohnehin ein sehr gefallsüchtiger Mensch. Wenn mich jemand kritisiert, fühle ich mich immer erst mal schlecht. Es gibt auch Fälle, wo ich nicht weiß, ob ich zu weit gegangen bin. In dem neuen Buch ist ein Text über eine junge Frau. Sie hatte sich an einem Pamela-Anderson-Wettbewerb beteiligt. Zu ihr hatte ich einen engen Kontakt. Da sie relativ naiv war, habe ich ihr immer wieder gesagt: „Ich schreibe das so auf, ich schreibe alles so auf.“ Sie war ernsthaft enttäuscht. Meine Freundin hat daraufhin gesagt: „Ich finde, die hast du unfair behandelt. Das macht man einfach nicht. Das geht nicht. Da bist du zu weit gegangen, auch wenn sie dir das so gesagt hat.“ Sie hatte in meiner Gegenwart darüber gesprochen, daß sie ihren Busen zu klein fände. Dadurch habe ich die Frauen auf den Plan gerufen. Danach war ich echt verunsichert und habe darüber nachgedacht, wohin so etwas führen kann. Stell dir mal vor, keiner aus der Nachbarschaft redet mehr mit ihr. Konsequent zu Ende gedacht heißt das, daß man diesen Beruf nicht machen kann.

Welche Reportage aus Ihrem Buch hat Sie persönlich am meisten berührt?

Lord Knud zum Beispiel, der Mann hat mich ziemlich beeindruckt, der war sehr weit oben und ist tief abgestürzt. Der hat Lebenswillen und will es immer noch allen zeigen. In dem Porträt gibt es eine Szene, in der der Lord zu einem Treffen nach Zehlendorf geht. Dort begrüßen ihn alle möglichen Leute mit solchen gebügelten Bronzegesichtern: „Ach Lord, hallo, schön, daß du da bist.“ Und du hast denen genau angesehen, was sie denken: Ach Gott, ist der abgestürzt, der sieht ja schlimm aus! In diesem Moment habe ich ihn richtig bewundert. Diese ganzen Arschgesichter, die da herumstanden, und der Lord hat noch so viel Power gehabt. Irgendwie war es sehr traurig und hat so ein Schlaglicht auf diese Kackgesellschaft geworfen. Wie man jemanden so fallen lassen kann, den man eine Zeitlang so gemocht hat und mißbraucht hat. Das hat mich ziemlich berührt.

Lutz Bertram war auch eine extreme Erfahrung. Der hat mich fertiggemacht, mich verhext und richtig eingelullt. Nach dem Gespräch war ich wie benommen und habe gedacht, die ganze Welt ist ungerecht zu Lutz Bertram. Alle sind Schweine und kreisen um Lutz Bertram. Ich war wie unter Drogen. Erst nach ein, zwei Tagen habe ich die Dinge wieder klarer gesehen.

Müssen Journalisten eigentlich irgendwann auch Bücher herausbringen?

Nee, nee, müssen sie nicht. Aber gerade, wenn man Reportagen schreibt, die dann einen Tag später weggefeuert werden, ist es sehr schön, wenn ein Verleger kommt und sagt: „Ich würde gerne daraus ein Buch machen.“ Darauf bin ich auch total stolz. Das steht dann im Schrank und ist doch etwas anderes als eine Zeitung. Das ist jedesmal wieder schön. Interview: Frank Rothe