: Das Geheimnis der Kreppsohlen
Freundlicher Reaktionär: Herbert Rosendorfer, einer der am meisten unterschätzten Gegenwartsautoren, zeigt sich in „Absterbende Gemütlichkeit“ als Chronist des Kleinbürgertums ■ Von Walter Klier
Mitten unter uns, das heißt bis vor kurzem in München, jetzt in Naumburg (neue Bundesländer), lebt ein bemerkenswerter Mensch. Es ist Herbert Rosendorfer, von Beruf Richter und seit den späten sechziger Jahren Verfasser einer langen Reihe teilweise sehr erfolgreicher Bücher. Deren erstes, mit dem schönen Titel „Der Ruinenbaumeister“, gefiel mir seinerzeit zwar im ganzen nicht so gut, dafür hat es eine der besten Anfangsszenen überhaupt: „Wer in einen Zug steigt, in dem sechshundert Nonnen eine Wallfahrt nach Lourdes antreten, ist froh, ein Abteil für sich allein zu finden, auch wenn ihm darin ein komisch leises Pfeifen und mehr noch ein leichter, kalter, säuerlicher Geruch auffällt.
– Wahrscheinlich singt die Glühbirne, dachte ich mir, Glühbirnen singen vor ihrem Ende bisweilen, darin den Schwänen ähnlich. Ich legte meinen Koffer ins Gepäcknetz und öffnete das Fenster, um die Ausdünstung des wohl schweißfüßigen Vorpassagiers auszulüften. Als aber der Zug abfuhr, ich mich hinsetzte, die Beine aus- und die Füße unter die gegenüberliegende Bank streckte, da wurden sie mit einem Griff umklammert und festgehalten.“
Kurz darauf, 1972, erschien der Roman „Deutsche Suite“. Darin treten in buntem Gemisch reale und fiktive Figuren auf, also etwa Adolf Hitler, Kardinal Faulhaber, Konrad Adenauer und Hermann Göring, ein gewisser CSU-Abgeordneter namens Dr. h. c. Anton Josef Kofler oder jener späte, degenerierte Sproß des Hauses Wittelsbach, der 1955 als Otto II. zu München den bayerischen Thron besteigt. Die allgemein bekannte Geschichte wird in der „Deutschen Suite“ nämlich dahingehend modifiziert, daß das Haus Wittelsbach weiterregiert oder doch zumindest auf dem angestammten Thron sitzen bleibt. Das (oder: ein) Problem mit diesem späten Otto ist, daß er etwas zu groß geraten ist: „[...] er war drei Meter groß, dick wie ein Nashorn und so schwer, daß er sich schon nicht mehr recht bewegen konnte. Zudem war nicht ausgeschlossen, daß er noch weiterwuchs. Otto war ein Monster. Durfte ein Monster König von Bayern werden?“
Die „Deutsche Suite“, ich gestehe es frei, ist vermutlich der einzige deutsche Roman, den ich nach Erreichen der Volljährigkeit öfter als einmal gelesen habe, nämlich zweimal. Die Leichtigkeit, mit der Rosendorfer sich erzählerisch an das schwerste überhaupt heranmacht, nämlich an die neuere deutsche Geschichte, hat ihn in den letzten Jahren zunehmend literarisches Renommee gekostet, und zwar in dem Maß, wie der antifaschistische Kieferstarrkrampf in das Geistesleben Einzug hielt.
Auch für den Kunstfimmel jener, die an einem final verstaubten Avantgardebegriff festhalten, hat Rosendorfer nichts zu bieten, wie vertrackt er seine Geschichten immer bauen mag. Denn er läßt niemals einen Zweifel daran, daß sein Glaube an die Magie des Erzählens ungebrochen ist und sein Interesse am Aberwitz der einzelnen Existenz immer wach, ohne daß er ein Remedium anzubieten hätte. Er schildert ihn bloß ab und leistet sich dabei ein Lächeln. Er ist, mit einem Wort, ein durch und durch konservativer, ja reaktionärer Typ.
Jedenfalls rangiert Herbert Rosendorfer, soweit man das so pauschal sagen kann, in der generellen Wertschätzung der linksliberalen Meinungsbildner unter „ferner liefen“. Das dürfte auch bei mir der Grund gewesen sein, daß ich zu meinen sehr fortschrittlichen Zeiten nichts von ihm mehr las. Aber vielleicht war ich auch nur beleidigt, weil ich ihm seinerzeit meinen ersten Roman verehrt hatte, was dem Meister kein Wort des Lobes oder Tadels wert war. (Später in den achtziger Jahren vollzog ich in meiner Verehrungspolitik eine radikale Wendung hin zu Elfriede Jelinek. Auch sie ließ nichts von sich hören, und so hörte ich mit dem Verehren wieder auf.)
Nun, viele Jahre später, vom grün-linken Anarchisten zum abgeklärten, staatstragenden Konservativen geläutert, und angelockt zunächst vom Titel des neuesten Rosendorfer-Opus, habe ich es wieder einmal versucht. „Absterbende Gemütlichkeit“ heißt der neue Band, der zwölf „Geschichten aus der Mitte der Welt“ enthält. Ich habe mich schon lange nicht mehr so amüsiert wie bei der Lektüre dieser Erzählungen aus der erstaunlichen Welt des Kleinbürgertums, derer sich Rosendorfer hier mit liebevoll beobachtender Präzision annimmt, mit Humanismus, Taktgefühl, Gerechtigkeitssinn und Gusto für das Skurrile bis Aberwitzige, auch Geschmacklose, wobei der Autor aber nicht beweisen will, daß er auch häßliche Wörter im Repertoire hat, sondern daß ihm nichts Menschliches fremd ist; das erwartet man ja auch von einem Richter – und eigentlich auch von einem Schriftsteller.
„Absterbende Gemütlichkeit“ ist fast ein Roman. Der größte Teil der Geschichten kreist um die gleichen paar Häuser, paar Familien, ein Milieu, das man auch aus der „Löwengrube“/„Die Grandauers und ihre Zeit“ und anderen Erzeugnissen der geschätzten bayerischen Erzähl- und Filmkunst zu kennen glaubt. Die Filmkunst tritt in der zweiten Geschichte, „Tommi im Glück“, auch gleich ins Rampenlicht. Da nimmt der arbeitslose Sproß der Familie Derendinger einen Job als „Stantmän“ an, bei einem sozialkritischen Film, dessen Regisseur das Drehbuch einem in Ungnade gefallenen Autor gestohlen hat, weswegen dieser Autor drei gedungene Schläger auf ihn ansetzt, die aber den vorsorglich als Regisseur maskierten Tommi krankenhausreif prügeln, der wiederum die 10.000 Mark, die der Regisseur ihm dann als sozusagen privates Schmerzensgeld übergibt (ohne daß Tommi kapiert hätte, was da genau vorgefallen ist), sofort in die Anzahlung für einen Sportwagen investiert, den er umgehend zu Schrott fährt – ich merke gerade, daß man der Geschichte mit solch skeletthaftem Nacherzählen unrecht tut, weil man das Eigentliche ausläßt: die, um es quasi-juristisch auszudrücken, grobe Fahrlässigkeit des Schicksals, an der die Betroffenen mit nicht minder grober Fahrlässigkeit weiterstricken, damit endlich die schlimmstmögliche Wendung eintritt.
Rosendorfer, meine ich, erfindet das wenigste. Ich vermute, daß er bei seinen Verhandlungen, wie man so schön sagt, tiefe Einblicke in das erlangt, was die Menschen so treiben, wenn sie glauben, daß niemand zusieht. Dabei hat der Nachbar längst ein Fernglas gekauft, um bei Tag und Nacht alles, und das genau, zu beobachten, und später bei der Verhandlung kommt alles heraus, und der Herr Richter schreibt auf seinem Richtertisch unbemerkt mit.
Mit Liebe werden auch moderne Sagen aufgegriffen, wie die von der Oma, die beim Sommerurlaub in Italien von der Direktion unbemerkt im Hotel lebt und durchgefüttert wird, allerdings wird sie dann beim Ausflug in die Umgebung auf einem Parkplatz vergessen; wo genau, das kann nachher wegen der allgemeinen Aufregung niemand mehr sagen, was wiederum eine Reihe von hektischen Aktionen nach sich zieht.
Und mit Liebe wird das Zeitkolorit der fünfziger Jahre rekonstruiert. „Der letzte Schrei waren Kreppsohlen. Besserverdienende Leute wie Herr Chef Halfinger zum Beispiel [...] trugen Original- Krepp, das heißt, die Schuhe waren von vornherein, als neue, gekaufte, mit Kreppsohlen versehen. Das war ein Gummimaterial eigenartiger Konsistenz: wie leicht durchscheinender, gelblicher Schafskäse, nur fester. Eine mittlere Materie zwischen Knöcherlsulze und Radiergummi. Unten gerippt, seitlich gekörnt, zwei bis vier Zentimeter dick. Nicht alle aber konnten sich Original-Krepp leisten. Es blühte ein Gewerbezweig auf, der dadurch am beginnenden Wirtschaftswunder teilhatte, daß er den weniger begüterten Kreisen die in den schlechten Zeiten durchgelaufenen Ledersohlen von den Schuhen riß und Krepp draufklebte. Hatte die deutsche Bevölkerung vorher an Gewicht zugenommen, wurde sie durch die Einführung der Kreppsohle schlagartig um zwei bis vier Zentimeter größer. Auch für Frauen gab es Kreppsohlen, sogar unter den Stöckelschuhen, was besonders abwegig ausschaute. [...] Wenig gefällig war auch eine weitere Entwicklung: die Kreppsohlen neigten zur Materialermüdung. Sie wurden dünner, dabei aber gleichzeitig breiter, begannen seitlich über den – wenn man so sagen kann – Grundriß des Schuhes auszubuchten, auszulappen, omelettartig.“
Wem bei solchen Passagen (selbst wenn er die Zeiten nicht erlebt hat) nicht das Herz aufgeht, dem ist nicht zu helfen. Oben war von Präzision die Rede. Das ist ein von Preis-Jurys oft und gern gebrauchter Terminus. Hier ist er einmal am Platz, und man kann zwanglos zeigen, was „Präzision“ beim Erzählen bedeutet, nämlich einfach, daß etwas stimmt, und daß es, wenn möglich, auf eine unerwartete Weise ausgedrückt wird.
Bei Rosendorfer, in diesem Band mit zwölf Geschichten, stimmt das meiste; vermutlich auch die Szene, wo der Arbeiterdichter zu den Arbeitern geht, die im Stehbeisel ihr Bier trinken, weil sie gerade keine Arbeit haben, und ihnen sagt, daß der Arbeiter sich auf sein Arbeitersein besinnen solle. Da sagt der Tommi (der Stantmän): „[...] wenn du Arbeiter bist, bist du beschissen. Das beste wäre: nicht arbeiten und doch Geld kriegen. So wie du mit deiner Schreibmaschine.“ Tommi ist nämlich der Ansicht, daß Arbeiter sein heißt, „das tun, was die anderen nicht tun mögen. Nein. Falsch. Man selber will es ja auch nicht tun – Bananenkisten ausladen, zum Beispiel. Arbeiter sein, heißt: das tun, was die Schlaueren nicht tun müssen, weil sie eben schlauer sind.“
Der Autor läßt keinen Zweifel daran, daß er hier mit Tommi einer Meinung ist, eine höchst unkorrekte Haltung klarerweise, der Autor allerdings, und das ist das noch Unkorrektere, gibt nicht an, wie und wo er den Hebel ansetzen würde, damit es endlich besser werden kann, für alle, was ja heutzutage eine allgemein anerkannte linksliberale Wahrheit ist: daß es diesen Hebel gibt, auch wenn man ihn vielleicht noch nicht entdeckt hat. Seine Sympathie gilt eher solchen wie seinem pensionierten Gerichtsreporter Trowitzer. „Er galt als einer der wenigen unbestechlichen Journalisten und war daher bei seinen Kollegen nicht beliebt.“
Herbert Rosendorfer: „Absterbende Gemütlichkeit“. Kiepenheuer & Witsch 1996, 253 Seiten, 39,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen