: Statt „was Ordentliches“ zu lernen, Fotograf
■ Autodidakt Marcin Wegner (32) aus Warschau arbeitet auf eigene Rechnung
Keinen Moment ruhig sitzen kann er. Seine Füße wippen, mit den Händen malt er Muster auf den Tisch, mitten im Gespräch springt er auf und geht gleich wieder in die Knie. Durch die Balkongitter fotografiert er eine alte Frau, die verstohlen in einem Abfallkorb wühlt. Marcin Wegner ist freier Fotograf. Auf dem Tisch liegt sein neuestes Werk: ein blau eingebundenes Buch, das Gediegenheit ausstrahlt und Pietät. „Das war das schwierigste Motiv. Ein Sarg in Übergröße. Er wirkte immer nur wie eine riesige Kiste. Ich hab dann vier Sargträger gebeten, das Teil zu schultern“, erzählt er.
Eigentlich hatte der heute 32jährige Buchhalter werden sollen. Das zumindest war der Wunsch seines Vaters. Der Junge sollte „etwas Ordentliches“ lernen. Der aber schwänzte die Schule in Warschau und büffelte in der Nationalbibliothek für die Aufnahmeprüfung an der Uni im südpolnischen Lublin. Kaum saß er in seiner ersten Geschichtsvorlesung, bekam er den Musterungsbefehl. Marcin schüttelt sich vor Lachen. „Ich bin dann in die Klapsmühle gegangen: ,vorübergehend unzurechnungsfähig‘. Das Attest hat mir ein befreundeter Arzt ausgestellt.“
Mit dieser Diagnose mußte er allerdings tatsächlich in eine psychiatrische Anstalt. „Ich kam in die Abteilung für Suchtkranke. Tagsüber durfte ich für ein paar Stunden in die Stadt. Da habe ich ganz normal weiterstudiert. Und am Nachmittag gab es im Krankenhaus Beschäftigungstherapie.“ Marcin gluckst und reibt sich die Hände in diebischer Freude über den gelungenen Streich. „Und so habe ich Fotografieren gelernt!“
Als er die Lateinprüfung zweimal hintereinander versäbelte, mußte er die Uni verlassen. Das Krankenhaus bescheinigte ihm, daß er „psychisch stabiler“ sei, und so kehrte er nach Warschau zurück, jobbte zunächst als „Mechaniker“ auf dem Flughafen, schließlich in einem Antiquitätenladen. „Dann hatte ich genug Geld zusammen, um mich an der Warschauer Universität zu immatrikulieren. Ich wollte ja noch immer Geschichte studieren.“
In Warschau lernte er eine Studentin kennen, die beiden heirateten, packten ihre Rücksäcke und fuhren für vier Monate auf Hochzeitsreise in die USA. „Da habe ich fotografiert wie ein Wilder. Als wir zurückkamen, schmiß ich das Studium und begann, professionell zu arbeiten.“ Marcin bekam sofort eine Stelle als Fotoreporter in einer Presseagentur. „Das war besser als jede Lehre. Ich habe alles fotografiert: den Präsidenten, Fußballspiele, Mädchen, Olivendosen. Aber auf die Dauer war das nichts für mich. Ich wollte selbst entscheiden, was ich fotografiere und was nicht. Ich wollte einen eigenen Stil entwickeln.“ Marcin grinst, schultert die Fototasche, legt die Hand auf die Klinke: „Seit einem Jahr bin ich mein eigener Chef. Und der hat in einer halben Stunde einen Termin.“ Gabriele Lesser, Warschau
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