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Jagdszenen aus Castor-Land

■ Die schlagfertige Staatsgewalt besetzt das Wendland und gibt dem Atommüll-Transport ins Zwischenlager Gorleben das Geleit Von Marco Carini

13.07 Uhr: Der mit hochradioaktiven Abfällen beladene Castor-Transport überquert – begleitet von einem massiven Pfeifkonzert – die Schwelle des Zwischenlagers Gorleben. Ohnmächtige Wut ist das vorherrschende Gefühl unter den rund 4.000 DemonstrantInnen, die sich unmittelbar vor der Brennelemente-Halde versammelt haben.

Die Proteste und Blockaden haben scheinbar nichts genutzt. In sechs Stunden hat der auf einen Tieflader umgelagerte, in blauen Kunststoff eingewickelte Atommüll-Behälter seine letzte 20 Kilometer-Etappe zwischen Dannenberg und Gorleben absolviert – geschützt von 10.000 Polizei- und Bundesgrenzschutz-BeamtInnen.

Doch die Ernüchterung macht nach kurzer Zeit optimistischeren Tönen Platz: „Wir haben unser Ziel erreicht“, sagt ein Demonstrant: „Der politische Preis ist ins Unermeßliche gestiegen, die Diskussion um solche Atommülltransporte neu entbrannt“. Und: „Daß wir den Transport nicht stoppen können, wußten wir doch vorher“.

Die AnwohnerInnen tröstet das wenig. Viele haben Tränen in den Augen, als sie, auf ihre Gartenpforte gestützt, beobachten, wie die kilometerlange Polizeieskorte mit einer Unzahl von Wasserwerfern und Räumpanzern an ihren Häusern und Höfen vorbeizieht. Ihre Heimat gleicht einer Festung und ist weiträumig abgesperrt: Polizeikontrollen sorgen schon auf der anderen Elbseite dafür, daß niemand, der keinen Passierschein besitzt, näher als 20 Kilometer an die strahlende Fracht herankommt.

Die meisten Vorgärten sind mit Transparenten zugepflastert, die vor der Verstrahlung der Region warnen. Ulrike Siems von der Castor-Initiative Höhlbeck klagt: „Wir können uns unseren Bauernhof ja nicht auf den Rücken schnallen und mit ihm nach Chile auswandern“. Deshalb unterstützen auch diejenigen, die nicht mitdemonstrieren, die AtomgegnerInnen: Brote werden geschmiert, Wasserflaschen gereicht und mit Trommeln und Wellblechen ein Höllenspektakel veranstaltet.

Zudem kommt es laut Polizei zu „massiven Angriffen“ mit Wurfgeschossen gegen Beamte, bei denen fünf der eingesetzten 10.000 „OrdnungshüterInnen“ leicht verletzt werden. Immer wieder werden da-rüberhinaus brennende Blockaden auf die Transportstrecke gezerrt. Auf der anderen Seite gehen Beamte wiederholt ohne Vorankündigung auch auf friedliche ProtestlerInnen los und knüppeln sie mit einem Schlagstockhagel zu Boden.

Eine Demonstrantin wird schwerverletzt per Hubschrauber ins Krankenhaus gebracht, zahlreiche ProtestlerInnen mit klaffenden Platzwunden und zugeschwollenen Gesichtern müssen ärztlich versorgt werden. Auch Journalisten mit sichtbarem Presseausweis – etwa der taz-Reporter – kommen mit den Knüppeln in Körperkontakt. Grund genug für Niedersachsens Innenminister Gerhard Glogowski die „konsequente Abwehr“ der „brachialen Gewalt“ der ProtestlerInnen durch Polizei und Grenzschutz zu loben.

Siehe auch überregionalen Teil

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