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Kantable Aggressivität

■ Neue taz-Porträtserie: Zeitgenössische Hamburger Komponisten /Henze-Schüler Jan Müller-Wieland zelebriert expressive Maßlosigkeit

Oft täuscht der erste Eindruck. So auch bei Jan Müller-Wieland, der seinem äußeren Erscheinungsbild nach leicht mit einem Juristen verwechselt werden könnte. Nadelstreifenanzug, dezentes Brillengestell und eine gewisse Seriosität im Blick verraten nicht den Komponisten empfindsam-expressiver Kunstmusik.

Dem Hamburger Publikum sind besonders zwei Werke des 1966 in Hamburg geborenen Jan Müller-Wieland noch deutlich in Erinnerung. Anläßlich der Verleihung des Hamburger Bach-Preis-Stipendiums wurde im Januar 1993 sein „Poem des Morgens“ uraufgeführt. Fast gewalttätige Klänge, die von dem massiv aufgestockten Philharmonischen Staatsorchester Hamburg ins Abopublikum regelrecht geschleudert wurden, dokumentierten da ein Bedürfnis expressiver Maßlosigkeit, das mehr Lust als Frust am Komponieren verrieten. Symphonische Klänge, die zwar auf Henze, Messiaen und Strawinsky verwiesen, aber ein höchst individuelles Szenario dramatischer Zeitgestaltung beschrieben.

Im Mittelpunkt des bisherigen Schaffens stehen symphonische und musiktheatralische Werke. Neben vier Symphonien, dem bereits erwähnten „Poem des Morgens“, nehmen Musiktheaterkompositionen einen immer größeren Platz ein. 1992 ist die Kammeroper Kain mit großem Erfolg in Hamburg uraufgeführt worden. Als Henze-Schüler ist die Hinwendung zum vokalen Stil ohnehin kein Zufall, wenn nicht gar die künstlerische Quintessenz aus den akademischen Lehrjahren. Auch wenn Müller-Wieland den Sammelbegriff einer Henze-Schule unerheblich findet, leuchtet Henzes künstlerisches Charisma aus fast jeder ästhetischen Bemerkung, die meist den sozial isolierten Menschen in einer bösen Gesellschaft beschreibt.

Diesem genüßlich ausgelebten Weltschmerz kantabler Aggressivität stehen die Standpunkte einer nun auch schon mit eigenen Traditionen belasteten Musik-Avantgarde diametral entgegen. Daraus macht der Komponist auch keinen Hehl: „Man kann zu allem zwar nein sagen, aber man muß einen Gegenvorschlag machen. Und wenn man diesen Gegenvorschlag einbringt, dann steht man in einem Verhältnis zum Vergangenen. Deshalb finde ich die revolutionäre Position einiger Leute so seltsam, die sich als völlig unabhängig hinstellen. Das halte ich für dumm.“

Giftige Kontakte mit Verfechtern einer rigiden Avantgarde-Perspektive bleiben da kaum aus. So berichtet der Komponist von einer Begegnung auf den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik 1988: „Dann kam der Tag, an dem ich mein Klavierstück aufführte. Die künstlerischen Leiter haben folgendermaßen reagiert: Der eine zerknüllte das Programmheft und warf es in den Flügel, der andere hat mich in sein Büro gerufen und mir gesagt, ich möchte bitte nicht mehr wiederkommen.“

Zeitgenössische Virtuosität scheint dem Hamburger Komponisten kein Schimpfwort zu sein. Ganz im Gegenteil versteht er sich sogar als Oberkellner für den Interpreten. Besonders sein Freund, der Cellist Jens-Peter Maintz (1. Preisträger des ARD-Wettbewerbes 1994), genießt das Privileg Müller-Wielandscher Bewirtung. Ein ihm gewidmetes Cellostück ist gerade in Arbeit.

Sven Ahnert

Um 20 Uhr findet heute im Studio 10 des NDR ein Portraitkonzert Jan Müller-Wieland statt.

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