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Die Schwelle ist überschritten

Die SPD bezog am vergangenen Freitag unter feierlichen Übergangsriten das Willy-Brandt-Haus, die neue Parteizentrale mitten im Herzen von Kreuzberg. Wenn Architektur gefrorene Musik ist, dann ist dieses Haus Techno  ■ Von Jörg Lau

Was am Freitag in Berlin- Kreuzberg an der Ecke Stresemann-/Wilhelmstraße vorging, kann man mit dürren Worten so beschreiben: Die SPD weiht ihre neue Parteizentrale ein. Dies würde in etwa der Nüchternheit und Funktionalität des Baus von Helge und Margarete Bofinger entsprechen, der von jetzt an unter dem Namen „Willy-Brandt-Haus“ in den Pressemeldungen die Stelle einnehmen wird, die früher die Bonner „Baracke“ und das „Erich- Ollenhauer-Haus“ besetzten.

Man sollte sich von dem konstruktivistischen Understatement der Fassade nicht täuschen lassen: dies mag ein Haus sein, das von Politikern träumt, die mit dem Transrapid nach Berlin einschweben und mit den Genossen der Sozialistischen Internationale per Internet Kontakt halten – aber bei seiner Inbesitznahme waren die alten Übergangsrituale zu vollziehen, die auch durch den von Oskar Lafontaine in seiner Festrede beschworenen „demokratischen Diskurs“ nicht obsolet geworden sind. Und so waren alle gekommen, die in der Partei irgend etwas zu repräsentieren haben: Bahr, Schütz, Klose, Vogel, Wieczorek-Zeul, Thierse, Rau, Lafontaine, Müntefering, Schily, Scharping, Stolpe und immer so weiter.

Eine solche Ansammlung von Prominenz könnte zwar einen großen Auftrieb von Journalisten erklären, aber kaum die Neugier und die gespannte Erwartung, die man am Freitag spüren konnte. Vor zehn Jahren wäre die Eröffnung einer neuen Parteizentrale ein Pflichtprogrammpunkt gewesen, dem man sich, die Schrecken der Festreden mit Gedanken ans rettende Buffet bekämpfend, ohne wirkliches Interesse unterzogen hätte.

Wenn aber heute eine der großen Parteien ihren Sitz nach Berlin verlegt, dann möchte man sehen, wie das geschieht. Übergangsriten sind natürlich auch weitab vom offiziös Politischen eine soziale Tatsache. Das Leben jedes einzelnen ist voller rites de passage: so hat der französische Ethnologe Arnold van Gennep in seiner klassischen Untersuchung die Handlungsmuster genannt, mit denen wir Geburt, Heirat, Tod, Abreise, Ankunft, Pubertät, Initiation – und eben auch den Wechsel des Wohnsitzes begleiten. In einer Gesellschaft wie der deutschen, die sich selbst als Übergangsgesellschaft wahrnimmt, und zumal in Berlin, der transitorischen Stadt schlechthin, sind politische Übergangsrituale eine heikle Angelegenheit, denn hier ist mit der Ratlosigkeit naturgemäß auch die Aufmerksamkeit am größten. Nur zwei im Grunde gleichermaßen konservative Gruppen hierzulande brauchen sich heute nicht für die politischen Rituale zu interessieren: für die einen hat die alte Bundesrepublik nie aufgehört zu existieren, für die anderen steht das Vierte Reich schon vor der Tür. Wer an beides nicht so recht zu glauben vermag, muß ein waches Auge auf die symbolische Politik haben, was vielleicht das enorme Interesse erklärt, mit dem sich die breite Öffentlichkeit hierzulande in Fragen des Gedenkens engagiert.

Trennen, verwandeln und angliedern

Nach Arnold van Gennep folgen alle rites de passage einem Drei- Phasen-Schema. Er schlägt deshalb vor, „Riten, die die Trennung von der alten Welt gewährleisten sollen, als Trennungsriten zu bezeichnen, Riten, die während der Schwellenphase vollzogen werden, Schwellen- bzw. Umwandlungsriten zu nennen, und für Riten, die an die neue Welt angliedern, die Bezeichnung Angliederungsriten zu gebrauchen.“

Es ist nicht ganz klar, worin bei diesem Umzug der Trennungsritus besteht. Vielleicht kann man schon die Hauptstadtdebatte vor fünf Jahren in diesem Sinne als rituelle Verabschiedung der alten Welt verstehen. Danach hätte dann die Schwellenphase begonnen, und die Einweihung der Parteizentrale wäre der Versuch einer Angliederung. Ein berühmter Nachfolger van Genneps, der Ethnologe Victor Turner, hat bei seinen Forschungen herausgefunden, daß die Schwellenphase die wichtigste und schwierigste Etappe des Ritus ist, weil sich die Teilnehmer hier in einer Situation der „Unstrukturiertheit, der Ambiguität und des Paradoxen“ befinden, Zwischenwesen, die weder dem alten, noch dem neuen Zustand zugehören.

Der SPD kommt das Verdienst zu, als erste Partei entschiedene Versuche unternommen zu haben, die Trennungsriten ernstzunehmen und die Schwelle zu überschreiten. Unter den häufigsten Angliederungsriten nennt van Gennep „Trankopfer, zeremonielle Besuche, Einweihung der verschiedenen Teile des Hauses, Teilen von Brot, Salz oder eines Getränks, gemeinsames Mahl. Solche Riten sind im Grunde Identifizierungsriten, die die künftigen Bewohner an ihren neuen Wohnort angliedern sollen.“

All dies wurde peinlich beachtet. Zum Trankopfer mußte – nach den Reden der Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier (von dem zeremoniellen Besucher Eberhard Diepgen in seiner Rede standhaft und störrisch Daniel- Wettigmeier genannt), der Rede Oskar Lafontaines, der Rede des Bezirksbürgermeisters von Kreuzberg und schließlich noch der Rede des Architekten – niemand lange gedrängt werden, ebenso wie zum gemeinsamen Mahl. Hinzu kam, den Ethnologen ebenfalls ein vertrautes Verhalten, der Ahnenkult, der sich schon in der Namensgebung des Hauses Ausdruck verschafft hatte und dem auch die Reden mit ihren vielen Beschwörungen verbunden waren: „Die SPD steht in der Tradition Willy Brandts zu dieser Stadt, die wie keine andere deutsche Geschichte erlebt und erlitten hat“, so brachte Lafontaine den „Bürgermeister, Bundeskanzler, Friedensnobelpreisträger und Parteivorsitzenden“ ins Spiel.

Teppichboden und Machtwille

Der Künstler Rainer Fetting enthüllte schließlich mit zweien der Kinder von Willy Brandt eine mächtige Statue, die den großen Vorsitzenden in einer zugleich lässig-zivilen und doch auch im Wortsinne richtungsweisenden Pose zeigt. Die SPD hat damit einen der ehemals „Neuen Wilden“ vom Moritzplatz zum Staatskünstler bestellt. Fetting hat sich von dem Jahrhundertformat des Modells nicht in die Defensive drücken lassen. Sein Brandt wirkt, stellt man erstaunt fest, auch bei 3,40 Metern Körpergröße nicht einschüchternd, eher ein bißchen jungenhaft-kindlich durch den überdimensionierten Kopf. (Daß man sich eine ähnliche Gestaltung für ein Helmut-Kohl-Haus lieber nicht vorzustellen wagt, hat nicht allein mit der Körperfülle des Modells zu tun.)

Beim zeremoniellen Rundgang mit dem Parteivorsitzenden waren auch kurze Blicke ins Arkanum gestattet – man linste kurz ins Büro von Oskar Lafontaine und den Sitzungssaal des Präsidiums und stellte beruhigt (!?) fest, daß in diesen Räumen sogar der Teppichboden Machtwillen atmet. Aber das mag an der wippenden Forschheit des Vorsitzenden gelegen haben, der mit drahtigen Gesten die Angliederungsriten vollzog.

Hier zeigte sich aber auch das Problem architektonischer Metaphern nach einem Jahrhundert voller gebauter Bedeutung: stets wurde in den Reden die Transparenz des Baus betont, als erlaube sie einen Rückschluß auf die Politik, die hier gemacht werden wird. Es gibt einen Punkt, an dem solche Beschwörungen das Gegenteil des Beschworenen bewirken. Wer Talent zur Paranoia hat, wird durch die Unsichtbarkeit der Macht, die heute in funktionalen Büros zu Hause ist (Oklahoma!), viel stärker angeregt als durch den obszönen Pomp früherer Zeiten.

Architektur, heißt eine berühmte Maxime, sei gefrorene Musik; woraus Max Goldt bekanntlich den Umkehrschluß gezogen hat: „Lieder sind geschmolzene Stadthallen“. Man kann sich fragen, welche Lieder wohl zur neuen Parteizentrale der SPD passen würden. Auf dem Parteitag von 1987 hat die Partei unter dem Druck der neuen sozialen Bewegungen angefangen, ihre schönen Arbeiterkampflieder durch Alternativklampflieder zu ersetzen: „Wir wollen wie das Wasser sein, das weiche Wasser bricht den Stein“, sang man damals mit der holländischen Gruppe „Bots“, einer alten Geißel der Friedensbewegung. Das scheint Gott sei dank vorbei zu sein. Dieses Haus will ganz sicher kein weiches Wasser sein. Wäre es gefrorene Musik, dann wohl Techno.

Kann man das Willy-Brandt- Haus als Metapher mit einem Sinn lesen? Wohl kaum. Verschiedene Lektüren drängen sich auf. Wer sich vom Landwehrkanal aus per Fahrrad nähert, dem muß vor dem Bug des Gebäudes das alte Tanker-Bild für die Partei einfallen.

Ein Witzbold hingegen wollte wissen, daß das Gebäude aus der Luft einem – bedrohlich schmalen – Tortenstück aus einer Infas-Grafik ähnlich sehe, wie man sie aus den Wahlprognosen im TV kennt. Ein anderer fühlte sich durch die Keilform an das Revolutionsplakat von El Lissitzky erinnert: „Schlagt die Weißen mit dem roten Keil!“ Hier müsse es dann natürlich heißen: „Schlagt die Schwarzen mit dem weißen Keil!“

Einen Steinwurf entfernt, gleich gegenüber vom Willy-Brandt- Haus, liegt das Tommy-Weißbecker-Haus, das erste besetzte Haus Berlins, heute autonomer Kulturtreffpunkt und sozialpädagogisches Zentrum. Davor standen einige historisch getreu als Punks zugerichtete Jugendliche und übten sich in gutgelaunter Verachtung für die neuen Nachbarn. Ein Spruchband weiß, wer „uns“ verraten hat: Sozialdemokraten. So spricht eine Subkultur, die längst geförderte Folklore ist, ein Musterbeispiel des „Projekt“-Wesens des sozialdemokratischen Berlins. Daß die Leute, die an die Macht wollen – und dies immerhin sagt das Haus unmißverständlich – , täglich an den unzufriedenen Betreuten vorbei müssen, ist ein eigenartig beruhigender Gedanke.

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