■ Ohne Legalisierung der Heilsfront wird es in Algerien keinen Frieden geben – meint FIS-Sprecher Abu Ussama
: „Wir wollen keine Theokratie“

taz: Nach seinem Sieg bei den Präsidentschaftswahlen will Liamine Zéroual die AlgerierInnen spätestens nächstes Jahr über eine neues Parlament abstimmen lassen. Die FIS wird dann wohl weiter verboten sein, also nicht teilnehmen können. Hat die FIS den Machtkampf verloren?

Abu Ussama: Obwohl die FIS von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen war, hat die Partei Zéroual danach einen Brief geschrieben. Es war eine Einladung zu Gesprächen mit der gesamten Opposition, einschließlich der FIS. Ziel war es, freie Wahlen durchzuführen. Wir haben geglaubt, daß General Zéroual in der Lage sei, sich gegen die anderen Generäle durchzusetzen – gegen jene Generäle, die die Parlamentswahlen 1991 annulliert haben und so das Chaos in das Land gebracht haben. Aber nach den Präsidentschaftswahlen hat sich nichts geändert. Jetzt findet ein Dialog nur mit ausgewählten Leuten statt. Die Machthaber vertrauen weiter der Gewalt.

Trotzdem verhandeln andere Oppositionelle, die einst mit der FIS verbündet waren, jetzt mit Zéroual, darunter die „Front der Sozialistischen Kräfte“ (FFS). Ist die Oppositionsfront zerbrochen?

Der Generalsekretär der FFS, Hocine Ait Ahmad, sagt: Das Drama kann nur mit Beteiligung der FIS beendet werden. Diese Botschaft hat er Zéroual übermittelt. Das Regime kann versuchen, Parlamentswahlen durchzuführen, aber dadurch wird das Drama nicht beendet. Gewalt und Terror werden bleiben. Ohne Beteiligung der FIS an den Wahlen wird die Sitution noch schwieriger. Und diejenigen, die sich an den Wahlen beteiligen, werden nicht gewinnen.

Was ist die Strategie der FIS?

Die FIS wird weiter mit den anderen Oppositionsparteien und der Bevölkerung zusammenarbeiten. Wir werden weiter für Frieden und Demokratie kämpfen.

Die FIS hat einen bewaffneten Arm: Die „Bewaffnete Armee des Heils“ (AIS). Und vor kurzem hat der Generalbundesanwalt Anklage gegen zwei Söhne des FIS- Chefs Abbasi Madani erhoben, weil sie Waffen nach Algerien geschafft haben sollen. Sind das „politische Mittel“?

Die FIS ist eine politische Partei und arbeitet ausschließlich mit politischen Mitteln. Die AIS ist eine bewaffnete Bewegung, die dem politischen Programm der FIS folgt. Aber sie hat eine unabhängige Führung und definiert ihre Strategie selbst. Die FIS hat immer appelliert, das Tor für politische Arbeit für alle Algerier zu öffnen, damit Leute nicht gezwungen werden, militärisch zu arbeiten.

Aber es gibt doch Leute, die für die FIS aktiv sind und für die AIS.

Politisch aktive Leute sind ausschließlich politisch aktiv.

Gehört Waffenbeschaffung zur politischen Arbeit?

Nein, das ist eine militärische Tätigkeit. Die politische Tätigkeit der FIS bestand zum Beispiel darin, das Treffen von Rom zu organisieren. Dort haben Parteien mit völlig unterschiedlichen Programmen verhandelt. Das Ganze wurde von dem Regime abgelehnt. Das bedeutet, daß das Regime keine friedliche Lösung will. Wir haben in der jüngsten Vergangenheit in zwei Wahlen die Mehrheit der Stimmen bekommen. Das zeigt, daß das Volk unserer Partei vertraut. Unsere Partei ist ohne Begründung verboten worden. Die einzige Erklärung lautete, daß wir die Parlamentswahlen gewonnen hatten.

Aber der Terror geht doch von beiden Seiten aus. Der inhaftierte FIS-Vertreter Ali Belhadsch hat selbst dazu aufgerufen.

Den Kreis des Terrors hat das Regime eröffnet. Es hat die Wahlen abgebrochen. Dann hat es Zigtausende Anhänger der FIS in Konzentrationslager in der Wüste verschleppt und angefangen sie zu töten. Daraufhin ist eine Gegenrepression entstanden. Die Situation nützte allen, die meinten, Probleme mit Waffengewalt lösen zu können. Die berüchtigten „Bewaffneten Islamischen Gruppen“ (GIA) wurden von Anfang an vom algerischen Geheimdienst infiltriert. Viele Gewalttaten wurden vom Geheimdienst durchgeführt. Die AIS hat dagegen nie Gewalt gegen die Bevölkerung angewendet und auch keine Sabotageakte gegen die algerische Industrie durchgeführt.

Welche Mittel hält die AIS denn für legitim, wenn Zéroual an der Macht bleibt?

Da müssen Sie die AIS-Führung fragen. Als FIS-Vertreter sage ich: Wir können nicht akzeptieren, daß die Mehrheit der Bevölkerung ignoriert wird, daß die größte Partei Algeriens in die Illegalität gedrängt wird.

Gibt es Kontakte zwischen FIS und GIA? Hat die FIS Einfluß auf GIA-Anhänger?

Organisatorisch gibt es überhaupt keine Verbindungen. Aber ich versichere Ihnen: Sollte es in Algerien zu einer friedlichen Lösung kommen, wird die Mehrheit der GIA-Anhänger der FIS folgen.

Warum rufen die inhaftierten FIS-Führer Abbasi Madani und Ali Belhadsch nicht, wie vom Regime gefordert, zur Beendigung des Terrors auf?

Beide sind im Gefängnis. Gefangene können keine Appelle abgeben – weder für noch gegen Krieg.

Häufig ist von einem weltweiten islamischen Netz die Rede. Was für Kontakte haben sie zu anderen islamistischen Organisationen?

Die FIS ist in erster Linie eine algerische Partei. Sie unterhält Beziehungen zu anderen islamischen Parteien, so wie Muslime Beziehungen zu anderen Muslimen pflegen. Das sogenannte islamische Netzwerk ist eine Erfindung der Diktatoren der arabischen Länder. Es soll dem Westen Angst einjagen, damit er die Diktatoren weiterhin unterstützt.

Wie sähe ein von der FIS regierter Staat aus?

Die FIS möchte einen Staat aufbauen, der auf islamischen Prinzipien basiert, mit Mehrparteiensystem, freien Wahlen und garantierten Menschenrechten.

Die internationalen Menschenrechtskonventionen oder islamisch definierte Menschenrechte?

Dazwischen gibt es kaum Unterschiede.

„Kaum“ heißt, es gibt welche.

Das Wesentliche ist identisch: Pressefreiheit, Religionsfreiheit, das Verbot von Folter.

Wie ist es mit Bekleidungsvorschriften? Müßten Frauen in einem von der FIS regierten Staat den Hidschab tragen?

Nein. Laut Islam kann jeder anziehen, was er will. Der Staat hat da keine Vorschriften zu erteilen.

Und als Rechtsgrundlage dient die Scha'aria?

Das islamische Recht kennt das Prinzip des Idschtihad. Aus den alten Quellen werden Verhaltensweisen für neue Situationen entwickelt. Diese Funktion soll das Parlament übernehmen. Gott hat uns die meisten Probleme gelassen, damit wir sie selber lösen. Im Koran steht: Wenn eine neue Situation eintritt, sollen sich die Muslime versammeln und darüber beraten. Unser islamischer Staat soll kein religiöser, sondern ein ziviler Staat werden. Wir wollen keine Theokratie. In theokratischen Staaten macht der Herrscher im Namen Gottes, was er selbst will. Im islamischen Zivilstaat regiert der Herrscher, weil er vom Volk gewählt worden ist. Interview: Thomas Dreger