Sittliche Empörung im Magen

Ein Lustspiel mit Tschechow-Gehalt, und trotzdem wird alles gut: Mit seinem Ensemble des Hamburger Thalia-Theaters inszenierte Jürgen Flimm für die Wiener Festwochen „Der gläserne Pantoffel“ von Ferenc Molnár  ■ Von Daniel Asche

Auch Essen kann Kunst, und Verdauen kann Wissenschaft sein. Und des Tischlers Magen ist ein trotzig Ding. Der hat sich in aller Vorfreude auf Kalbsgulasch eingestellt, zu verdauen hat er nun jedoch Rind. Der Tischler Sipos ist ungehalten: „Jetzt muß der Magen andere Säuren produzieren.“ Und das Zimmermädchen staunt: „Was für eine Wissenschaft Sie haben!“

Auftakt der Wiener Festwochen, Jürgen Flimm und das Ensemble des Thalia Theaters Hamburg erweisen den Gastgebern alle Ehre. Molnár, „Der gläserne Pantoffel“. Eine Komödie, ein Lustspiel der alten österreichisch-ungarischen Schule. Verwirrung, Irrung, Liebe, Tränen. Doch um es gleich vorwegzunehmen: Die Sache greift trotzdem. Trotz aller Zweifel, ob Molnár wirklich ein Dichter oder doch eher ein perfekter Handwerker sei. Und trotz aller Bedenken, ob so ein Lustspiel ein ernstzunehmendes Seelendrama ist. Am Ende ist es rundum gutgegangen. Ein verdienter Triumph für Jürgen Flimm und sein Thalia- Ensemble. Doch das nur vorweg.

Erster Akt, Budapest um 1920, ein Pensionszimmer. Irma hat gerade das Essen für Herrn Sipos aufgetragen. Irma (Annette Paulmann) ist Zimmermädchen in Adeles Pension. Und Irma ist unsterblich in Herrn Sipos verliebt. Der Tischler (Wolf-Dietrich Sprenger) liebt das Kommandieren: „Handtuch zum Händetrocknen, Pantoffeln bringen, Sodawasser eingießen!“ Irma liest ihm die Befehle von den Lippen ab, fegt über die Bühne wie ein Wirbelsturm. Irma – die grenzenlos verliebte, unglaublich naive, reine Seele. Und Herr Sipos, der grantige Kauz. Beängstigend ausdauernd stehen ihm die Haare zu Berge. So sehen geraufte Haare aus.

Die Pension gehört Adele. Und Adele (Sandra Flubacher) ist wiederum unsterblich in Herrn Kaiser verliebt. Herr Kaiser (Sven-Eric Bechtolf) wohnt auch hier und ist in seinen Kniebundhosen und mit seinem dressierten Schnurrbart die Karikatur eines Bonvivant. Weil Adele nun Herrn Kaiser liebt, will sie Herrn Sipos heiraten, „als Medizin gegen die Liebe“. Und Irma leidet. Das ist schon die ganze Handlung, beinahe.

Ferenc Molnár schrieb am liebsten nachts im Kaffeehaus – wie ein Besessener. 41 Theaterstücke hat er insgesamt verfaßt. Als sein Stammwirt ihm zur Erleichterung des nächtlichen Arbeitens einen Schlüssel übergeben wollte, warf ihn Molnár angeblich in die Donau. Vor der Deportation flüchtete der ungarische Jude Ferenc Molnár später nach New York. Dort starb er 1952.

Jetzt hat Jürgen Flimm also den selten gespielten „Gläsernen Pantoffel“ ausgegraben. Er kostet den durchtriebenen Humor Molnárs genüßlich aus, unterstreicht jede Pointe doppelt. Und Flimms Liebe fürs Detail springt auch auf die Schauspieler über. So richtig maniriert, grotesk und zerstreut spielt Wolf-Dietrich Sprenger den Sipos, bezaubernd einfältig ist Annette Paulmann als Irma.

Rolf Glittenberg machte einfache Holzstühle zum zentralen Motiv seines Bühnenbildes. Im gelblichen Weiß alternden Fensterlacks bilden Stühle im ersten Akt eine Zimmerwand, in einer Reihe quer über die Bühne aufgestellt. Alles ist durchsichtig, man sieht regelrecht die Hellhörigkeit dieses Orts, jeder kann hier den anderen belauschen. Ein halbrunder Hintergrundprospekt, knittrig wie Paketpapier.

Dann die Hochzeit von Adele und Sipos im Biergarten. Das Bühnenbild ist blau gehalten, eine Lichterkette im Halbdunkel. Ein hoher Turm aus aufgeschichteten blauen Stühlen dient als sprödes Rednerpult. Ein Fotograf dichtet grauenhafte Hymnen, später wird er noch mit Kopfstimme chinesische Arien singen. Sipos setzt zu einer zerstreuten Dankesrede an. Da zerbricht Irma endgültig die fragile Stimmung. Adele habe auch jetzt noch etwas mit Herrn Kaiser, brüllt sie betrunken. Der Skandal ist perfekt, die Hochzeit geplatzt. So schwerelos und zugleich schwermütig kann Theater sein. Das scheinbar harmlose Lustspiel hat tschechowsche Züge angenommen und bricht sich zur Tragikomödie – im morbiden Charme der zwanziger Jahre.

Hinter den oft als reinen Unterhaltungsstücken abqualifizierten Werken Molnárs steckt eben doch noch mehr, wenn auch nur der treffsichere Blick auf die Bemühungen, mit denen sich Menschen vor der Zudringlichkeit der eigenen Wahrheit schützen. Dies wurde oft übersehen, weil Molnár die Lebenslüge gern als Satire getarnt auf die Bühne schickt.

Was macht es da noch, daß der dritte Akt nicht mehr diese Höhe erreicht. Man sieht eine Polizeistation mit k. u. k. Ambiente. Hier folgt die Auflösung, am Ende wird dann alles gut. Doch das Stück zeigt seine Schwächen. Da hilft es auch nicht, daß Annette Paulmann noch Irma ernstlich anrührend als beschädigten Engel zeigt. Und daß Adele ihrem nun geschiedenen Mann mit auf den Weg gibt: „Du wirst deinen Magen von sittlicher Empörung auf Liebe und Hingabe umstellen.“ Aktenblätter wehen wie welkes Herbstlaub über die Bühne. Sipos nickt. „Ich kenne keine Tränen. Wir Gewerbetreibenden werden von innen naß.“

„Der gläserne Pantoffel“ von Ferenc Molnár, Regie: Jürgen Flimm, Koproduktion Thalia Theater Hamburg/Wiener Festwochen, die Hamburger Premiere ist am

31. August.