Barden dort und Barden hier

„Literatur gab es schon lange vor der Kolonialisierung“: Südafrika-Schwerpunkt im Haus der Kulturen der Welt – Die Lesereihe „Erinnern in die Zukunft“ stellt acht SchriftstellerInnen vor  ■ Von Cristina Nord

In Jorge Luis Borges' Erzählung „Die analytische Sprache John Wilkins'“ wird eine chinesische Enzyklopädie zitiert, die Tiere in verschiedene Gattungen einteilt. Da stehen Fabelwesen neben streunenden Hunden, einbalsamierte Tiere neben solchen, die von weitem wie Fliegen ausschauen, und Spanferkel neben solchen, die mit sehr feinem Pinsel gemalt sind: eine Klassifizierung, die fremd und beliebig erscheint und die verdeutlicht, wie absurd es ist, die Vielfalt der Dinge in Raster zu zwängen.

Um realere, aber nicht weniger absurde Ordnungen geht es auch in den Texten der südafrikanischen Autoren, die seit Dienstag im Haus der Kulturen der Welt zu Gast sind. Etwa in Mike Nicols Roman „Die Feuer der Macht“, in dem der tyrannische Polizist Nunes die Bewohner eines abgelegenen Dorfes nach Herkunft und Hautfarbe in Klassen einteilt. Oder in Etienne van Heerdens Erzählung „Der Gast in der Rundhütte Wilhelmina“, in der die heile Welt der weißen Protagonisten ins Wanken gerät, als eine farbige Ururgroßmutter entdeckt wird.

Oder auch in Don Matteras autobiographischem Roman „Sophiatown“, in dem es heißt: „In einer langen Reihe standen wir im Hof eines staatlichen Verwaltungsgebäudes und warteten darauf, daß wir als ,reine‘ Farbige oder als ,Eingeborene‘ – wie man die Afrikaner in den vierziger und fünfziger Jahren offiziell bezeichnete – eingruppiert würden. Wie man eine Blume oder einen Baum einer bestimmten Gattung zuordnete, so ordnete und schichtete man die Farbigen ein. So lange, bis sie selbst nicht mehr glaubten, Menschen zu sein.“

Zweifellos ist die Apartheid Gegenstand südafrikanischer Literatur. Doch die Schriftsteller lehnen es entschieden ab, darin ihr einziges Thema zu sehen. Der Lyriker Keorapetse Kgositsile, der am Mittwoch las und auch heute bei „Performing Poetry – Die lange Nacht der Lyrik“ mitwirken wird, sagt: „Literatur gab es schon lange vor der Kolonisierung.“ Da schon immer geschrieben worden sei, bedeute das Ende des Apartheidregimes weder einen Bruch noch eine Krise für die literarische Produktion in Südafrika.

Der 1951 geborene Nicol, der neben seinen Romanen auch Sachbücher über die politische Situation des Landes vorlegte und heute abend unveröffentlichte Gedichte vortragen wird, sieht dies ähnlich. Wenn jetzt ein folgenschwerer Einschnitt für die Literatur postuliert werde, so klinge das, „als sei Apartheid das einzige, worüber je geschrieben wurde“.

Wenn sich die Schriftsteller unter dem Etikett „Apartheidsliteratur“ nicht wiederfinden, so verhält es sich mit einem anderen Reizwort kaum anders: Die vielzitierte orale Tradition, die gerade für Literaturen aus dem Süden geltend gemacht wird, bedarf ebenfalls der Differenzierung. So wehrt sich auch die Lyrikerin Zoä Wicomb, die gestern abend gelesen hat, gegen ein verklärtes Afrikabild, das auf der Romantisierung der mündlichen Überlieferung beruht. Oralität, sagt Wicomb, sei alles andere als statisch und schon gar nicht auf Afrika beschränkt: Auch in Europa haben Barden und Geschichtenerzähler eine große Rolle gespielt.

Die heutige Veranstaltung könnte deutlich machen, wie solche Analogien aussehen. Eingeladen sind neben den südafrikanischen auch deutsche Autoren wie Oskar Pastior und F.C. Delius, und als Moderator wird der imbongi Zolani Mkiva auftreten, ein praise poet, der schon Mandelas Regierungsantritt besang. Durch diese Zusammenstellung wolle man eine „kommunikative Situation“ erwirken, sagt Thomas Brückner, der an der Konzeption der Lesereihe beteiligt war. „Wir wollen versuchen, ein breites Spektrum dessen, was Lyrik sein kann, darzubieten – zum Teil interaktiv, so daß deutsche und südafrikanische Autoren mit ihren Texten aufeinander eingehen und vielleicht gar das eine Gedicht als Antwort auf das andere bezeichnet werden kann.“

Ob dieses „Wagnis“, wie Brückner sagt, gelingt, wird heute abend zu sehen und vor allem zu hören sein.

„Erinnern in die Zukunft“, bis Sonntag im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, Tiergarten. Heute abend, 21 Uhr: „Performing Poetry – Die lange Nacht der Lyrik“