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Europas Musterschüler rechenschwach

■ Die Steuerschätzung der Bundesregierung ergibt Mindereinnahmen von 88 Milliarden Mark für dieses und das nächste Jahr: Reicht das Sparpaket noch? Verpaßt Deutschland den Einstieg in die europäische Währungsunion?

Berlin (rtr/AP/taz) – Die Bundesregierung hat sich um mindestens 88 Milliarden Mark verrechnet. Auf diese Zahl summieren sich die Steuerausfälle von Bund, Ländern und Gemeinden in diesem und im nächsten Jahr, die zustande kommen, weil die Bundesregierung eine zu optimistische Wachstumsprognose abgegeben hatte. Allein auf den Bund entfallen nach der am Mittwoch veröffentlichten Steuerschätzung Ausfälle von 11,8 Milliarden Mark für 1996 und 30,1 Milliarden für 1997. Im laufenden Jahr fehlen dem Staat 21,7 Milliarden Mark.

Finanzminister Waigel erklärte, die Bundesregierung habe die Steuerausfälle schon lange erwartet. „Für die Wirtschafts- und Finanzpolitik ergibt sich aus der Steuerschätzung keine neue Lage“, erklärte er. Man habe durch die Haushaltssperre und das Bonner Sparpaket frühzeitig Vorsorge getroffen. SPD-Chef Oskar Lafontaine warf der Bundesregierung dagegen „gesamtwirtschaftliches Versagen“ vor. Die falsche Bonner Finanzpolitik sei die Ursache für die Krise, erklärte Lafontaine gestern in Bonn. Sie habe zu Wachstumsschwäche, Steuerausfällen und weiterem Anstieg der Arbeitslosigkeit geführt.

Oswald Metzger von den Bündnisgrünen verlangte von der Bundesregierung, unverzüglich ein neues „Sparpaket Zwei“ vorzulegen. Der haushaltspolitische Sprecher sagte, der unvermeidbare „Wohlstandsabbau für alle“ müsse gerecht verteilt werden.

Wegen der massiven Steuerausfälle wird laut Bild-Zeitung aus den Reihen der Union der geplante Abbau des Solidaritätszuschlags in Frage gestellt. Aus den neuen Ländern, aber auch aus den Reihen der CDU/CSU-Bundestagsfraktion wachse der Druck auf Bundesfinanzminister Theo Waigel (CSU), die geplante Senkung des Zuschlags um einen Prozentpunkt auf 6,5 Prozent zum 1. Januar 1997 zu verschieben.

Die Bundesregierung steht angesichts der Mindereinnahmen vor einem Dilemma. Steuererhöhungen hat sie ausgeschlossen. Bei einer Erhöhung der Neuverschuldung würde die Bundesrepublik aber mit Sicherheit die Kriterien zur Einführung des Euro- Geldes im Jahre 1999 verpassen. Bundeskanzler Helmut Kohl hat sich erst am Mittwoch erneut strikt gegen eine Lockerung der Bedingungen für die europäische Währungsunion ausgesprochen. Bei einem Besuch der EU-Kommission in Brüssel versprach der Kanzler, daß Deutschland weitere Sparanstrengungen unternehmen werde und die öffentlichen Haushalte um 50 Milliarden Mark entlasten werde. Im laufenden Jahr würden nur Irland, Dänemark und Luxemburg die Kriterien für den Euro – erlaubt ist ein Defizit von etwa drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts – erfüllen, Deutschland und Frankreich jedoch nicht. Nach einer Prognose der EU-Kommission sind Frankreich und Luxemburg im entscheidenden Jahr 1997 die einzigen Länder, die die Kriterien zur Währungsunion erfüllen. Die EU halbierte ihre Wachstumsprognose für die deutsche Wirtschaft. Die Experten gehen für 1996 von einem Wachstum in Deutschland von weniger als 1,0 und für 1997 von 1,8 Prozent aus. klh Tagesthema Seite 3

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