: Kameras vor der Tür, Peilsender am Auto
■ ABM für Geheimdienstler: „radikal“-Leute wurden jahrelang penibel überwacht
Hamburg (taz) – „Wir wurden über anderthalb Jahre mit einem breiten Spektrum geheimdienstlicher Mittel total überwacht“, weiß Ralf Milbrandt nach dem Studium der Ermittlungsakten. Seit wenigen Wochen hat der Rendsburger, dem die Karlsruher Bundesanwaltschaft (BAW) vorwirft, an der Herstellung der verbotenen „Untergrunddruckschrift radikal“ beteiligt gewesen zu sein, Einsicht in einen Großteil der Unterlagen, auf deren Grundlage die Staatsanwaltschaften in Karlsruhe und Koblenz nachweisen wollen, daß es sich bei der radikal-Redaktion um eine „kriminelle Vereinigung“ handelt.
Aus den Unterlagen geht zweifelsfrei hervor, daß die angeblichen MacherInnen der radikal das Ziel einer der bislang größten bekanntgewordenen Observationsmaßnahmen des Staatsschutzes in der Geschichte der Bundesrepublik gewesen sind. 90 Leitz-Ordner füllen allein die Ermittlungsunterlagen über die beiden aus Norddeutschland stammenden Beschuldigten, die im März von Karlsruhe nach Koblenz überstellt wurden. Dort wird aller Voraussicht nach den vermeintlichen radikal-„Verantwortlichen“ im kommenden Jahr der Prozeß gemacht werden.
Aus den Akten geht hervor, daß die Personen, die der Staatsschutz als Teilnehmer eines von ihm abgehörten, angeblich konspirativen radikal-Treffens in der Eifel im September 1993 identifiziert haben will, bis in den letzten Winkel ihres Lebens observiert wurden. So brachten die Ermittler versteckte Kameras gegenüber den Wohnungen einiger Beschuldigter an, um deren Bewegungen aufzuzeichnen und ihr persönliches wie politisches Umfeld zu ermitteln. Sämtliche Telefone der Beschuldigten, zum Teil selbst die ihrer Arbeitgeber, wurden abgehört, in mehreren Fällen sogar die Gesprächsverbindungen von öffentlichen Telefonzellen aus protokolliert.
Doch damit nicht genug: Auch die gesamte an die Observierten gerichtete Post wurde über anderthalb Jahre fast lückenlos angehalten, geöffnet und kopiert, bevor sie dann wieder fein säuberlich verschlossen den Adressaten zugestellt wurde. Sämtliche Banken, bei denen die Beschuldigten Kunden waren, unterichteten die Staatsschützer vorbehaltlos über alle Bewegungen auf den Konten der Verdächtigen.
Zudem gibt es in den Ermittlungsakten Hinweise darauf, daß die Fahrzeuge der vermeintlichen Untergrunddruckschrift-Hersteller mit Peilsendern überwacht wurden, um umfangreiche Bewegungsprofile zu erstellen. Durch das umfangreiche Überwachungsprogramm, an dem neben dem Bundeskriminalamt auch ein halbes Dutzend Landeskriminalämter beteiligt waren, gelang es den Ermittlern nicht nur, zahlreiche Informationen über die Beschuldigten zusammenzutragen. Auch über einzelne Personen aus dem Bekanntenkreis der Verdächtigten finden sich detailierte Dossiers in den Ermittlungsakten.
Die im Herbst 1993 begonnene Mammutobservation endete erst, als im Rahmen der bundesweiten Großrazzia gegen linksradikale Gruppen am 13. Juni des vergangenen Jahres vier der Beschuldigten verhaftet und ein knappes halbes Jahr in Untersuchungshaft gesteckt wurden. Vier der insgesamt acht angeblichen radikal-Macherinnen tauchten bis heute ab.
Mit der Abgabe des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft Koblenz wurde der Anklagevorwurf geringfügig reduziert. Die radikal-Verantwortlichen sollen in ihren Druckschriften „terroristische Vereinigungen“ wie die Antiimperialistische Zelle und das K.O.M.I.T.E.E. nicht mehr permanent unterstützt, sondern „nur“ für diese geworben haben. Dennoch bleibt der Hauptvorwurf, als Redaktion eine „kriminelle Vereinigung“ gewesen zu sein. Marco Carini
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