piwik no script img

■ Kommentare Für die Türkei ist der Traum vom „Westen“ ausgeträumtEine einseitige Liebe

In der Mythologie der Türken ist der „Westen“ das Ziel, die Territorien dazwischen sind nur Etappen. So wie der „Drang nach Osten“ der Deutschen scheint es einen „Drang nach Westen“ der Türken gegeben zu haben. Es ist ein Paradox, daß die Osmanen sich nach dem 15. Jahrhundert in dem Maße vom „Westen“ entfernten, je mehr sie zur „Verwestlichung“ gedrängt wurden. Der „Westen“ indes hat das zornige „Ostreich“, das einseitige Liebeserklärungen abgab, stets verachtet; vor den turkmenischen und islamischen Armeen haben die Armeen der Kreuzritter Byzanz das Leben ausgehaucht.

Das osmanische Abenteuer begann unter alawitisch-turkmenischem Vorzeichen, und im Chaos des 15. Jahrhunderts kamen alsbald die christlichen, jüdischen und unzähligen anatolisch- sufischen Gemeinschaften hinzu. In dem „Millet“-System der Osmanen lebten ethnisch-religiöse Gemeinschaften zusammen, wenn auch getrennt. Trotz der Übernahme des Kalifats im 16. Jahrhundert und damit verbunden der Dominanz des sunnitischen Islam haben im Rahmen der Herrschaftshierarchie muslimische, christliche und jüdische Gemeinschaften eine gemeinsame Zivilisation hervorgebracht.

Heute ist die türkische Identität von Kulturen und Ethnien geprägt, die nur unter Zwang zusammengeführt wurden. Noch heute findet man in der türkischen Gesellschaft Muslime, die armenisch oder griechisch mit kretischem Dialekt sprechen. Es gibt Pomacken, die bulgarisch, und Albaner, die albanisch sprechen. Eine der ältesten Gemeinschaften Anatoliens existiert indes nicht mehr: Die türkischsprachigen Karamanli. Sie wurden wegen ihrer christlich-orthodoxen Religionszugehörigkeit beim griechisch-türkischen Bevölkerungsabkommen als „Griechen“ eingestuft und mußten ihre Heimat verlassen.

Der Nationalstaat Türkei hat durch seinen unitarischen Charakter diese Vielfalt von Identitäten vernichtet, ohne eine neue Identität zu schaffen. Was sich herausgebildet hat, ist eine leidvolle, reaktionäre Mischung auf der Basis verschiedener Identitätssedimente. Eine trunkene Identität wurzelloser Konvertiten. Der Traum vom „Westen“ ist ausgeträumt. Das Tor des Westens ist verschlossen. Weil das, was die Osmanen nicht vollbrachten, der türkische Nationalstaat vollbracht hat: Er hat den „Westen“ in sich getötet. Ragip Zarakoglu

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen