: Nullrunde und Jobabbau bringen Staatsdiener in Rage
■ Die ÖTV will nicht zur Speerspitze eines gesellschaftlichen Großkonfliktes werden. Genausowenig möchte sie jedoch als Einfallstor für Sozialabbau herhalten
Einen richtigen Streik mit Urabstimmung, gar einen Generalstreik will die ÖTV nicht. Es handele sich bei den jetzigen Warnstreiks um „ganz normale Tarifauseinandersetzungen“, betont die Stuttgarter ÖTV-Zentrale. Die Gewerkschaft möchte nicht zur Speerspitze eines gesellschaftlichen Großkonfliktes werden. Sie will aber auch nicht als Einfallstor für Sozialabbau dienen. Genau das aber drohte, würden die Arbeitgeber aus Bund, Ländern und Gemeinden mit ihren Forderungen durchkommen.
Laut dem Forderungskatalog sollen zwei zusätzliche freie Tage – 1987 speziell im öffentlichen Dienst vereinbart – wieder gestrichen werden. Außerdem sollen Extras wie freie Tage im Heiratsfall verschwinden. Insgesamt würde die Arbeitszeit im Schnitt damit jährlich um „vier bis fünf Tage verlängert“, so ÖTV-Sprecher Thomas Wunder. Einer solchen Arbeitszeitverlängerung aber will die Gewerkschaft angesichts des geplanten Stellenabbaus von rund 200.000 Jobs keinesfalls zustimmen.
Hinzu kommt der Plan der Arbeitgeber, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall aufzuweichen. Der Manteltarifvertrag, der eine hundertprozentige Lohnfortzahlung garantiert, wurde zwar nicht gekündigt. Die Arbeitgeber versuchten aber, über Kürzungen beim Urlaubs- und Weihnachtsgeld die Lohnfortzahlung zu mindern, so Wunder. Pro Krankheitstag könnten beispielsweise Prozente vom Weihnachtsgeld abgezogen werden. Solche Koppelungen sollen nach Blüms Entwürfen demnächst gesetzlich abgesichert sein.
Ob die Arbeitgeber aus Bund, Ländern und Gemeinden aber tatsächlich auf solchen Eingriffen beharren und deswegen einen Streik riskieren, ist fraglich. Der Vorsitzende des Verbandes der kommunalen Arbeitgeber (VKA) und Oberstadtdirektor von Köln, Lothar Ruschmeier (SPD), hat schon gefordert, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall bei den jetzigen Tarifverhandlungen auszuklammern. Angeblich gibt es hier einen Streit mit Bundesinnenminister Kanther (CDU), der einen Abbau der Lohnfortzahlung anstrebt. Die Kürzungen bei Kranken berühren jedoch den empfindlichsten Punkt in der Sozialpartnerschaft. „Das bringt die Leute auf die Palme“, erklärt Wunder.
Rechne man die Forderung der Arbeitgeber nach einer Nullrunde mit den anderen Kürzungsplänen zusammen, so ergebe sich eine reale Einkommensminderung von mehr als 10 Prozent, schätzt der ÖTV-Sprecher. Mit diesen Einsparungen solle der Stellenabbau flankiert werden. „Die Arbeitgeber haben mit diesen Forderungen überzogen.“
Wird der Sprengstoff der sozialen Verschlechterungen entschärft, dürfte die ÖTV aber bei den Prozenten weitgehend kompromißbereit sein. Zwar hat die Gewerkschaft zu Anfang die traditionell überhöhte Forderung von 4,5 Prozent mehr Lohn gestellt. Angesichts von Abschlüssen in der Bau- , Textil- und Chemieindustrie zwischen 1 und 2 Prozent dürfte sich aber auch die ÖTV mit Ergebnissen in dieser Größenordnung zufriedengeben. ÖTV-Chef Herbert Mai betonte erst kürzlich noch einmal die Forderung nach einer „sozialen Komponente“. Dies bedeutete prozentual annehmbare Steigerungen für die niedrigen Einkommen und gleichzeitig nur minimale Erhöhungen für höhere Verdienstgruppen. Würden die Arbeitgeber auf den Sozialabbau verzichten, wäre eine niedrigprozentige Einigung schon bei der nächsten Verhandlungsrunde am Mittwoch möglich.
Wie auch immer das Ergebnis ausfällt: Einsparungen durch massive Stellenkürzungen kann auch die ÖTV nicht verhindern. Den Vorschlägen des Berliner FU-Professors Peter Grottian, durch offensive Arbeitszeitverkürzung und Einkommensverzicht Arbeit umzuverteilen, erteilt die Gewerkschaft eine Absage. Um tatsächlich durch Entgeltverzicht nennenswert neue Stellen schaffen zu können, müßten nicht nur die Besserverdienenden, sondern auch Durchschnittsverdiener auf einiges Geld verzichten. „Diese Belastung wäre zu stark“, ist Wunder überzeugt. Barbara Dribbusch
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