: Rollback der Hardliner
In den Schlagzeilen liegen militante Abtreibungsgegner in den USA ganz vorn. Doch politisch geraten sie in die Defensive. Jetzt formiert sich sogar bei den Republikanern der Widerstand. Es geht um Moral, um die Rolle des Staates und – im Wahlkampf entscheidend – um die Stimmen der Frauen ■ Aus Washington Andrea Böhm
Bill Clinton begann seine Präsidentschaft mit einem relativ bescheidenen Akt von großer symbolischer Wirkung: Er hob die Anordnung seiner republikanischen Vorgänger auf, die Bundesfinanzen für Informationszentren über Schwangerschaftsabbrüche im In- und Ausland zu streichen. Vertreterinnen von Frauenorganisationen waren eingeladen, um Bill Clinton zu applaudieren, während draußen ein paar tausend Abtreibungsgegner lautstark gegen den neuen Präsidenten protestierten.
Das Thema Abtreibung – genauer gesagt: das verfassungsmäßige Recht der Frau, über die Austragung oder den Abbruch einer Schwangerschaft selbst zu entscheiden – ist seitdem einer der wenigen politischen Streitpunkte, in denen Bill Clinton eine konsequente Linie durchgehalten hat. Hier liegt einer der wenigen klaren Gegensätze zu seinem Konkurrenten im Präsidentschaftswahlkampf, Bob Dole.
Dole will einen Verfassungszusatz durchsetzen, der das Recht auf Abtreibung abschaffen würde, und tut sich bis heute schwer, eine Ausnahmeregelung im Fall von Vergewaltigung, Inzest oder Gefahr für das Leben der Mutter zu fordern.
Nur 20 Prozent sind gegen das Recht auf Abtreibung
Zuletzt gerieten der Präsident und sein Herausforderer Mitte April aneinander: Clinton legte Veto gegen ein Gesetz ein, das eine Methode für Abtreibungen nach der 20. Schwangerschaftswoche verboten hätte. Diese Methode wird in einigen hundert Fällen pro Jahr bei Gefahr für Leib und Leben der Mutter oder Schwerbehinderungen des Embryos angewandt. Der Vatikan protestierte; die Erzbischöfe von Chicago und Boston beschuldigten den Präsidenten, „Abtreibung unter allen Umständen und mit allen Mitteln zu unterstützen – selbst wenn diese an Kindsmord grenzen“. Einige Bischöfe empfahlen, im November ihre Stimme nicht Bill Clinton zu geben.
Doch zum Leidwesen der katholischen Würdenträger sind es nun die Republikaner, die aufgrund ihrer kategorischen Opposition gegen das Abtreibungsrecht um Wählerstimmen fürchten müssen. Im Parteiprogramm steht zwar: „Wir glauben an das Grundrecht des ungeborenen Kindes auf Leben.“ Doch vor zwanzig Jahren erkannte man immerhin noch an, daß es „in der amerikanischen Gesellschaft – und innerhalb unserer eigenen Partei – in dieser Frage unterschiedliche Ansichten gibt“. Diese Differenzen sind keineswegs verschwunden – im Gegenteil: Sie werden immer massiver.
Noch im Frühjahr schien die Mobilisierung der „Christian Coalition“ sowie der furiose Auftakt Pat Buchanans im republikanischen Vorwahlkampf die Partei weiter in die christlich-fundamentalistische Ecke zu drängen. Doch in den letzten Wochen haben die republikanischen Gouverneure von Kalifornien, New Jersey, New York und Massachusetts öffentlich den Aufstand geprobt und eine liberalere Position zur Abtreibung gefordert. „Wir müssen deutlich machen, daß man für die Entscheidungsfreiheit der Frau sein kann, ohne damit zu einem ,schlechten‘ Republikaner zu werden“, erklärte New Jerseys Gouverneurin Christine Todd Whitman.
Grundsätzliche philosophische Differenzen mit dem rechten Parteiflügel über die Rolle des Staates und die Rechte der Frau spielen dabei ebenso eine Rolle wie wahltaktische Erwägungen.
Immer weniger ÄrztInnen nehmen Abtreibungen vor
Laut Umfragen sind nur 20 Prozent der AmerikanerInnen dafür, das Recht auf Abtreibung ganz abzuschaffen; 41 Prozent wollen es mit Einschränkungen versehen wissen; 37 Prozent sprechen sich für ein Recht ohne Restriktionen aus. Unter den letzten beiden Gruppen befinden sich viele Frauen, die in ökonomischen und fiskalischen Fragen zwar konservativ, in sozialen Fragen aber moderat sind. Auf deren Stimmen ist Dole dringend angewiesen, will er gegen Bill Clinton gewinnen.
Für das radikale Lager um Pat Buchanan kommt jede Entschärfung der Parteiposition einem Verrat gleich, den es mit einem „Aufstand“ auf dem Parteitag der Republikaner Anfang August rächen würde – vor laufenden Fernsehkameras. Bei einer Konfrontation auf dem Parteitag sei sie dabei – allerdings auf der anderen Seite, erklärte Gouverneurin Todd Whitman. „Diskussionen über Gewissensentscheidungen müssen in Familien, Kirchen, Synagogen und zwischen Arzt und Patientin geführt werden“, sagt sie. „Der Staat hat mir nicht vorzuschreiben, was ich mit meinem Körper mache.“
Was bei dieser polarisierenden Debatte über die Rolle des Staates und die moralische Bewertung einer Abtreibung aus dem Blickfeld gerät, ist die reale Situation. Zwar unterstützen Bill Clinton, Christine Todd Whitman und die Mehrheit der AmerikanerInnen das Recht auf einen legalen und medizinisch sicheren Schwangerschaftsabbruch, ignorieren aber die schleichende Erosion dieses Rechts: Immer weniger ÄrztInnen sind willens oder in der Lage, Abtreibungen durchzuführen. Fünf Morde von militanten „Lebensschützern“ an Gynäkologen und Klinikmitarbeiterinnen in den letzten beiden Jahren sowie Einschüchterungskampagnen gegen zahlreiche andere Frauenärzte haben den von Abtreibungsgegnern gewünschten Abschreckungseffekt bei Ärzten erzielt – vor allem im Mittleren Westen und in den Südstaaten. Hinzu kommt, daß immer weniger Mediziner diesen Eingriff während der Ausbildung lernen. In 84 Prozent aller Gemeinden der USA können keine Abtreibungen durchgeführt werden. Über 90 Prozent der Abbrüche finden in Praxen, Kliniken und Krankenhäusern größerer Städte statt.
An der enorm hohen Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen hat dies wenig geändert – wohl aber an der Zahl von Abtreibungen, die nach der 15. Woche durchgeführt werden, weil die Frau vorher keinen Arzt finden konnte. Rund die Hälfte der jährlich sechs Millionen Schwangerschaften in den USA sind nach Angaben des „Alan Guttmacher Institute“ für Familienplanung ungewollt. Von diesen werden rund 1,5 Millionen durch eine Abtreibung beendet. In 330.000 Fällen ist die Schwangere jünger als achtzehn Jahre. Die Motive der Frauen hat das Institut detailliert dargelegt. Drei Viertel der Frauen, die abtreiben, geben an, aufgrund finanzieller Schwierigkeiten, Arbeit, Ausbildung oder der Abwesenheit eines festen Partners nicht für das Kind sorgen zu können.
Abtreibung als Methode, um Familien klein zu halten
Die Umfrageergebnisse sprechen Bände über mangelhafte Verhütungspraxis, fehlende Sexualaufklärung an den Schulen, über die rapide wachsende Zahl alleinerziehender Mütter und den ökonomischen Druck auf diese Frauen. Kleinere Familien zu gründen, so erklärte unlängst der amerikanische Arbeitsminister Robert Reich, sei eine „Kompensationsstrategie“ der AmerikanerInnen gegen sinkende Reallohneinkommen und die wachsende Notwendigkeit von zwei oder drei Einkommensquellen. Abtreibung ist zweifellos eine Methode, Familien „klein zu halten“.
Im Wahlkampf wird von solchen Zusammenhängen wenig zu hören sein. Zwar ist man tief gespalten, was das Recht auf Abtreibung angeht. Parteiübergreifende Harmonie herrscht derzeit aber, wenn es um den Staatsabbau und die Demontage des sozialen Netzes geht. Und das betrifft vor allem Frauen und Kinder.
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