■ Mit Illusionen auf du und du: Rußland in die OECD?
Berlin (taz) – Ganz mutig hat Rußland beantragt, in die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aufgenommen zu werden. Drei Wochen vor den russischen Präsidentschaftswahlen hat dieser Schritt zwar überwiegend taktische Gründe – die Regierung unter Ministerpräsident Tschernomyrdin will gegenüber dem In- und Ausland suggerieren, daß Rußland eine Politik der aktiven Wirtschaftsreformen verfolgt, auch wenn inzwischen fast alle Reformer gefeuert worden sind. Aber der Beitrittswunsch offenbart auch eine gewaltige Selbstüberschätzung.
Nur wegen ihres Waffenarsenals gilt die Regierung in Moskau noch als Großmacht. Politisch ist sie bereits auf den Status einer großen Mittelmacht geschrumpft. Und für die Weltwirtschaft hat Rußland nur noch als Rohstofflieferant Bedeutung. Nach dem OECD-Statut aber werden ausschließlich Industrieländer mit westlich orientierter Wirtschaftsverfassung aufgenommen – da müssen selbst wohlhabende Erdölförderländer und die ostasiatischen „kleinen Tiger“ draußen bleiben. Deshalb bedeutete der Beitritt für Tschechien und Ungarn einen gewaltigen Prestigegewinn; deswegen drängeln Polen und die Slowakei so ungeduldig vor den Toren der Organisation.
Das Anpassungsprogramm hingegen, das Rußland durchlaufen müßte, wäre so gewaltig, daß es wie der dritte Schritt vor dem ersten wirkt. Wirtschaftsstatistik auf Weststandard, Rubel-Konvertierbarkeit, Liberalisierung des Kapitalmarktes – das alles sind Aufgaben, an denen sich schon der Internationalen Währungsfonds (IWF) seit Jahren die Zähne ausbeißt. In der OECD beraten die Mitglieder über ihre Wirtschaftspolitiken und deren Wechselwirkung untereinander. Für Rußland, vom Weltmarkt noch immer weitgehend abgekoppelt, ist dies fast bedeutunglos. Und die OECD ist eine Organisation auf Gegenseitigkeit; doch Rußland hat nichts zu geben.
Außerdem gehören fast alle Mitgliedsländer dem OECD-eigenen Ausschuß für Entwicklungshilfe (DAC) an. Wer DAC-Mitglied ist, zählt als „westliches Geberland“. Rußland aber ist mit 100 Milliarden Dollar verschuldet. Langfristige Umschuldungsvereinbarungen sowie ein IWF-Kredit über 10 Milliarden Dollar waren nötig, um das Land wieder zahlungsfähig zu machen.
Wenn der IWF wie ein Arzt am Krankenbett Rußlands steht, stellt die OECD die Verwaltung des Krankenhauses dar. Und an deren Schreibtisch haben Patienten nichts zu suchen. Dietmar Bartz
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