Deutsches Meistermalermassaker

Das hier ist große Kunst, und was bist du? Heute eröffnet die große Retrospektive des alten Wilden Georg Baselitz in Berlins Neuer Nationalgalerie. Zermanschte Figuren, zerstückeltes Holz. Doch längst ist das Rohe weichgekocht  ■ Von Harald Fricke

Der eigentümlich süß müffelnde Geruch von Firnis ist nicht aus den Räumen herauszukriegen. Es riecht nach Farbe und sieht aus wie schnell verdientes Geld. Während seine Retrospektive mit hundert Gemälden und einem Dutzend Skulpturen von New York über Los Angeles und Washington nach Berlin wanderte, hat Georg Baselitz gleich serienweise neue Bilder gemalt, einige davon sind mit Februar 96 datiert und eben erst durchgetrocknet. Insgesamt hängen jetzt acht Familienporträts wie ein Portal monumental und meterhoch doppelt übereinander und scheinen das Publikum schon am Eingang anzuspringen, als wollten sie von der Wand heruntergrollen: Das hier ist große Kunst, und was bist du? Über Fragen der Qualität solcher Schnellschüsse hat man sich nicht so viele Gedanken gemacht. Die Bilder seien zwar etwas „aquarellhaft“, aber letztlich ist die Nationalgalerie einfach froh über ein paar Baselitze mehr, die in Amerika nicht zu sehen waren.

Wohl zu Recht. Seit Ende der sechziger Jahre zählt Georg Baselitz zu den großen deutschen Malern, mit seiner documenta-Teilnahme 1982 wurde er neben Sigmar Polke und Gerhard Richter zur Vaterfigur der Neuen Wilden, und in den neunziger Jahren zählt der gebürtige Sachse überhaupt zu den teuersten Malern weltweit. Der Versicherungswert einzelner Werke liegt bei knapp einer Million Mark, gemalt wird auf Anfrage, mit Wartelisten. Das ist die S-Klasse des Kunstbetriebs – und echtes Handwerk, für das es bei der Konsolidierung einer Moderne nach der Moderne genügend Abnehmer gibt. Werner Schmalenbach schwärmt vom „tollen Maler“, dem „mal die unerhörte Kraft, mal der Zauber“ eigen ist; Heinrich Klotz sah im Baselitz der Achtziger bereits den Gewährsmann für „die Heraufkunft einer neuen Gegenstandslosigkeit, die – frei von allen Skrupeln eines konzeptionellen Malverbots – die Feste der Farben auf großen Leinwänden zu feiern verheißt“. Heute reichen ihm wiederum ein, zwei flächig betupfte Bilder, um den abstrakten Baselitz „die Tradition der Moderne, ganz ohne Umwege, anrufen zu lassen“, wie er über die „zweite Moderne“ in der Kunst schreibt.

„Nicht einmal Erstsemester“

Nur Joseph Beuys hatte seinerzeit widersprochen: „Nicht einmal Erstsemester“ soll er Baselitz wegen seiner Holzskulpturen für den deutschen Pavillon 1980 bei der Biennale in Venedig gescholten haben. Doch dafür weiß Baselitz einen Grund, den er im Interview mit artforum bekannt hat: „Er (Beuys) gehörte einer anderen Generation an, die im Krieg gekämpft hat. Ich komme aus der Generation, die vor dem Krieg geflüchtet ist und die noch immer wegläuft.“ In diesen Sätzen klingt mehr an als nur das Understatement, mit dem der spätgeborene Einzelkämpfer sein Terrain biographisch abzugrenzen versucht.

Tatsächlich ist es Baselitz mit dem Bezug zum Zweiten Weltkrieg in seiner Malerei sehr ernst. Auf die Frage nach Einflüssen erzählt er bei der Pressekonferenz in Berlin, wie beeindruckt er als Student von einer Ausstellung mit Arbeiten Jackson Pollocks und abstrakten Expressionisten war, „wie imperial die Amerikaner waren und wie provinziell dagegen die Situation hier, die wir selbst verschuldet hatten – wenn auch nicht durch mich“. Und auf die Frage, warum er sich betont als „deutscher Maler“ bezeichne, hatte Baselitz in eben jenem artforum Donald Kuspit geantwortet: „Ein Maler kann nur dann sein Bestes geben, wenn die Grundlage für seine Arbeit dort verankert ist, wo er herkommt, wo er geboren wurde. Es ist allein die Basis seiner Herkunft, auf der er versucht, all die Extreme dieser Welt miteinander zu versöhnen.“ Und ewig rauscht's, am Kunst-Pol.

Dabei sind die Wege dorthin bei Baselitz verworren. Seine Vita liest sich wie ein Pandämonium, das er dann hundertfach gemalt, zerstückelt, auf den Kopf gestellt oder in Holz geschlagen hat. Das deutsche Meistermalermassaker.

Am 23.Januar 1938 wird ein gewisser Hans Georg Kern in Deutschbaselitz/Sachsen geboren. 1956 soll der Bursche vom Land noch Forstwirtschaft für den Dienst am Sozialismus studieren, wird aber im gleichen Jahr an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee aufgenommen. Zwei Semester später weist man ihn wegen „sozialpolitischer Unreife“ aus der Akademie. Er macht rüber in den Westen und nennt sich – es ist Mauerbau – nach seinem Heimatort. So weit die Geburt des Baselitz aus dem Geist des Dissidententums. Der Rest ist Galeristenarbeit.

Die Ausstellung in Berlin beginnt mit einem Skandal. 1963 werden die Bilder „Der nackte Mann“ und „Die große Nacht im Eimer“ von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt, der Künstler und die Galerie Werner & Katz zu einer Geldstrafe wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt. Der Grund: In Charlottenburg hatte es großformatige Pimmel zu sehen gegeben. Dem nackten Mann steht der Knüppel einen halben Meter hoch vom fleischig bis lehmfarben gehaltenen Leib ab, auf der großen Nacht hält ein Junge das Ding in der Hand. Von Erregung sieht man nicht viel, das Ganze ist eher leidvoll gehalten, die Farbflächen schieben sich wie bei Francis Bacon pastos ineinander, und der Hintergrund bleibt schwarzbraun, öde, leer. In diesem Nichts hängt alles vom Geschlecht ab und, das weiß auch der Künstler, neigt eh mehr zu Phantasma, Trieb oder Natur. Aber nicht zum höheren Wesen einer Malerei aus Licht und intensiven Augenblicken, wie sie Pollock vorantreibt, den Baselitz so sehr bewundert. Er dagegen steckt zwischen Scholle und Pimpf-Sexualität. Die Stengel-, Stumpf- und Spargelbilder jedenfalls sind peinlich illustrativ, pennälerhaft plump und steif, wenn man sie mit der zeitgleich dahinströmenden Wunsch-Ökonomie der Pop-art vergleicht.

Einsam wandernde Klumpfüße

Daran ändert sich auch in der Folge wenig. Einsam wandern Bild auf Bild „Partisan“ (1965), „Der neue Typ“ oder „Rebell“ aus dem gleichen Jahr durch ein Flickwerk aus Landschaften, denen die Strenge reiner Oberflächen fehlt. Baselitz malt mit heißem Pinsel und tappt dabei in die Falle der Tradition. Hier ein bißchen Kirchner, dort ein Klumpfuß à la Picasso, und die aus der Hose ragenden Fleischbrocken erinnern an Lovis Corinths „Geschlachteter Ochse“. Immer sind die Ergebnisse einen Tick zu expressionistisch, symbolisch aufgeladen und bedeutsam, wo er doch eigentlich nur de Koonings aggressives All- over sucht. Statt dessen löst Baselitz seine Bilder nur an den Rändern in unwägbare Spachtelspuren auf, das Zentrum bleibt fett aufgetragen, heilig. Tatsächlich legen die offen um die Brust wehenden Jacken und halb aufgeknöpften Hosenschlitze der Jünglinge eine Kreuzform frei, die nicht recht ins selbst entworfene Bild vom ungeschlachten Goten paßt. Einen Moment hat er die Auflösung von Figur und Abstraktion im Griff: Auf „B. Für Larry“ vermischen sich 1967 Wolken und Bäume mit dem weichen Körper eines kahlen Alten, stoßen zerstückelte Wölfe quer in die Ordnung. „Zwei Meißener Waldarbeiter“ funktioniert ähnlich chaotisch, doch weiter wollte Baselitz dann nicht mehr in den Formen driften. Lieber schon hat er Oben mit Unten vertauscht.

Höchstens Schuhgröße 38 auf der Leinwand

Das Phänomen der umgedrehten Bilder ab 1969 klärt auch die Berliner Retrospektive nicht. Baselitz will zu diesem Thema nichts mehr sagen, es sei ihm dabei um die Ablösung vom Gegenstand gegangen, „die mir die Freiheit gab, mich mit malerischen Problemen auseinanderzusetzen“. Das muß reichen, und die Motive erkennt man ja weiterhin am Titel. Die „Ährenleserin“ (1978) greift grazil wie eine Ballerina von Degas nach einem Ast, der „Adler“ thront auf einem weißen Quadrat. Überhaupt sind auch die kopfüber arrangierten Arbeiten ein Gang durch die Kunstgeschichte, auf dem die „Netzflickerinnen“ von Max Liebermann, Munchs morbid glühende Farben oder die Köpfe aus Emil Noldes „Pfingsten“ zitiert werden. Das alles wirkt im Laufschritt der Produktion – bis zu zehn Arbeiten pro Jahr sind ausgewählt, manche großformatigen Bilder entstehen an nur einem Tag – sehr gehetzt und mit dem Pinsel hingepeitscht. Trotzdem ist es eine fröhliche Zeit um 1980, als New Wave Deutschland erreicht: Man kann malen und verkaufen und trinken und dann betrunken „Flaschentrinker“ malen.

Bekanntermaßen ist danach alles erlaubt gewesen. Baselitz abstrahiert, tupft, punktet und verrührt; seine Skulpturen werden mit Wucht ins Holz geschlagen, daß es heftig splattert. Manchmal finden sich Fußspuren auf den Bildern, weil er so riesige Leinwände benutzt, daß er bei der Arbeit über das Bild stapfen muß. Dennoch sind die Abdrücke sehr präzise gesetzt, dick ausgemalt teilweise und das Schuhwerk eher zart, kaum größer als 38. Längst ist das Rohe weichgekocht: Am Ende des Rundgangs steht „Armalamor“, eine weibliche Figur von 1994, die sich keck die Hand auf den Kopf legt und die andere um ihre Arschbacke schlingt. Sie ist dekorativ mit lila Schottenstoff bezogen. Und Baselitz trägt einen nachtblauen Boss-Anzug, weil der Herrenausstatter ihm die Ausstellung gesponsert hat. Nicht fürs Firmenimage, sondern wegen der Sorgen um die Belegschaft. In Metzingen hängen Baselitz-Bilder in der Fabrik von Hugo Boss, „um die Mitarbeiter zu verunsichern“.

Bis 29.9. in der Neuen Nationalgalerie Berlin. Der Katalog kostet 49DM