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Good Vibrations

Evelyn Glennie ist Starsolistin, Trommel-Globetrotterin und Anführerin einer „Perkussionsrevolution“ in der Neuen Musik. Ihr Handicap: Sie ist vollkommen taub  ■ Von Christoph Wagner

Es ist ein außergewöhnlicher Tag im Dörflein Upton, nur ein paar Meilen von der englischen Universitätsstadt Cambridge entfernt. Im schmucken, frisch renovierten Bauernhof, gleich neben Kirche und Dorfweiher, herrscht eine Stimmung wie vor der Weihnachtsbescherung. Evelyn Glennie erwartet einen Möbeltransport, genauer gesagt: ein dreißigteiliges, tonnenschweres Gamelan-Gongspiel, das direkt aus Bali kommt. Bei ihrer letzten Asientournee hat sie den Bau dieser Spezialanfertigung in Auftrag gegeben, die ausnahmsweise nach der westlichen Tonleiter gestimmt ist. Jetzt kann sie es kaum erwarten, die ersten Töne darauf zu spielen.

Evelyn Glennie ist Schlagzeugerin, und wer Schlagzeug spielt, gehört zu den Hinterbänklern des Orchesters. 1. Hauptsatz des klassischen Reglements – gilt überall, nur nicht hier. Glennie ist die treibende Kraft hinter der aktuellen „Perkussionsrevolution“ in der Neuen Musik. Die zierliche Britin hat Pauken, Trommeln und Becken mitten ins Zentrum der Bühne gerückt – und damit das Schlagzeug als ernstzunehmendes Soloinstrument im klassischen Musiksektor etabliert.

Und nicht nur das. Ob „unplugged“ mit Björk oder im Duett mit dem brasilianischen Perkussionisten Nana Vasconcelos – Glennie kennt nicht nur keine Etikette, sondern auch keine Stilgrenzen. Dabei hat die Grammy-dekorierte Starsolistin mit einem besonderen Handicap zu kämpfen: Evelyn Glennie ist vollkommen taub.

Das Universum in der Scheune

Endlich ist der Laster mit der Spezialfracht eingetroffen. Das Gamelan wird die Zahl von Glennies Perkussionsinstrumenten auf über 600 erhöhen. Untergebracht sind sie direkt nebenan in der renovierten Scheune.

Geht man durch die eisenbeschlagene Tür, betritt man eine andere Welt – ein Sammelsurium im besten Sinne des Wortes. Evelyn Glennie ist eine Art Trommel- Globetrotterin. Neben dem gebräuchlichen Orchesterschlagwerk gehören afrikanische Xylophone, Congas und Bongos aus der Karibik, chinesische Gongs und Tablas aus Indien sowie brasilianische Rasseln, Schellen und Ratschen zum Rhythmusuniversum in der Scheune. Einige der exotischeren Klangerzeuger wie ein indisches Tontopfspiel oder ein afrikanisches Kürbis-Balaphon hat sie selbst von ihren zahlreichen Auslandstourneen mitgebracht, wo sie regelmäßig den Kontakt mit einheimischen Musikern sucht.

In Korea studierte sie mit einer Gruppe traditioneller Samul-Nori- Trommler, während sie in Brasilien Gast einer Sambaschule war. „Um einen bestimmten Stil wirklich zu kennen, genügt es nicht, ein paar Bücher zu lesen und sich die Spieltechnik anzueignen“, erklärt sie. „Man muß eine Zeitlang mit den Menschen leben, erfahren, was sie essen, wie sie sprechen und woran sie glauben. Nur so begreift man etwas von der kulturellen Bedeutung einer Musik und warum es Leute gibt, die einer kleinen Trommel ihr ganzes Leben widmen.“

Glennie respektiert Geschichte und Aura der Instrumente – was nicht heißt, daß sie sich an die oft strengen Regeln der Spielweise gebunden fühlt. Die Kraft liegt im Dazwischen: Neue Klänge eröffnen neue Horizonte und regen die Experimentierlust an. „Was passiert eigentlich, wenn man auf einer indischen Tabla mit Holzstöcken spielt?“ fragt sie. „Ein indischer Musiker würde nicht einmal davon träumen, so etwas zu tun, weil er so fest in seiner Tradition verwurzelt ist, man könnte auch sagen, gefangen. Ich dagegen bin viel freier.“

Schlagzeugmenü auf Knopfdruck

Der Trommeldschungel in der Scheune hat auch einen Herrn, doch keinen Zauberer, sondern einen (Instrumenten-)Techniker. Per Display ist alles abrufbar – ginge auch nicht mehr anders. Elektronische Datenverarbeitung hilft den Überblick zu bewahren: Steht etwa eine Tournee an, liefert der Computer auf Knopfdruck die Liste der Instrumente, die für das vorgesehene Konzertprogramm benötigt werden. Manchmal sind es mehrere Dutzend Trommeln, die im Tourneetransporter verstaut werden.

Der Organisationsaufwand ist enorm: Da Evelyn Glennie auf fremden Instrumenten nicht spielen kann, hat sie in Japan und den USA drei komplette Perkussions- Sets in der Größenordnung einer Lastwagenladung für Konzertgastspiele deponiert. „Ich muß die Trommeln, auf denen ich musiziere, bis ins kleinste Detail kennen: die Schallwellen, Schwingungen, die Resonanz des Holzes. Die Verbindung ist total. Jede Trommel hat eine eigene Persönlichkeit, die mir vertraut sein muß, sonst funktioniert meine Wahrnehmung nicht“, erklärt die Perkussionistin, die letztes Jahr ihren 30. Geburtstag feierte.

Die Stücke für ein Konzertprogramm werden aus einem Repertoire von mehreren hundert Kompositionen ausgewählt. Viele davon hat Glennie selbst in Auftrag gegeben. Immer ungefähr zehn Komponisten schreiben für sie an neuen Werken, darunter so renommierte Leute wie James McMillan oder Howard Skempton. Einer, der ganz oben auf der Wunschliste steht, ist Pierre Boulez. Ihn würde sie gerne für einen Kompositionsauftrag gewinnen.

Der Körper als Trommelfell

Aufgewachsen ist Evelyn Glennie auf einem Bauernhof in Schottland – Schafe galten dort mehr als Musik. Nur die Mutter spielte gelegentlich Orgel in der Kirche.

Als Evelyn acht Jahre alt war, bemerkten die Eltern, daß ihr Gehör nachließ. Kein Arzt konnte helfen. Mit zwölf war Evelyn völlig ertaubt. Obwohl sie sich weigerte, eine Gehörlosenschule zu besuchen, lernte sie rasch das Lippenlesen. „Abends unterhielt ich mich manchmal mit meinem Bruder, indem ich mit einer Taschenlampe seinen Mund anleuchtete“, erinnert sie sich.

Auf keinen Fall wollte sie das Musizieren aufgeben. Ein einfühlsamer Musikpädagoge brachte ihr eine andere Art der Wahrnehmung bei: die Fähigkeit des „stummen Hörens“. Evelyn entwickelte ein feines Gespür für Schwingungen, das den ganzen Körper einbezog. Diese Sensitivität für Resonanzen wurde zu ihrem sechsten Sinn. Das Schlagzeug war dafür das ideale Instrument – die Schwingungen der Trommelfelle sind körperlich fühlbar. Als Siebzehnjährige schrieb sich Glennie an der Royal Academy of Music in London ein. „Ich war die erste taube Musikerin dort“, erzählt sie. Nach einem bravourösen Studienabschluß startete sie 1986 eine Solokarriere, wobei gleich das erste Konzert ein enthusiastisches Echo fand – die Kritiker überschlugen sich regelrecht.

Von da an hagelte es Angebote. Renommierte Dirigenten wie Georg Solti bemühten sich um die Trommelvirtuosin. Mit einem Grammy für die beste Kammermusikeinspielung avancierte Glennie 1988 endgültig zum internationalen Star, der mit Preisen, Ehrendoktorwürden und Auszeichnungen überhäuft wurde.

Radarwellen und „Augenmusik“

Der Ruhm ändert nichts daran, daß für Evelyn Glennie jeder Auftritt zum Abenteuer wird. Wenn sie mit Händen und Stöcken über die Felle wirbelt, verwandelt sich ihr gesamter Körper in ein einziges sensibles Hörorgan – ist im Wortsinne „ganz Ohr“. Die Fingerkuppen fühlen die feinsten Vibrationsnuancen durch die Trommelstöcke. Die Fußsohlen nehmen Frequenzen über den Boden wahr, weshalb Glennie am liebsten barfuß spielt. In der Bauchgegend spürt sie die Baßlagen, der Brustbereich empfängt den Diskant, und selbst die Haare werden zu Antennen. Der Körper als Radarstation. „Du hörst Musik – ich fühle sie!“ bringt sie den Unterschied auf den Punkt.

Dazu kommt die „Augenmusik“. Beim Spielen verfolgt sie die gesamte Orchesterpartitur – und hat zudem ihre Mitspieler fest im Blick. Kein Bogenstrich oder Posaunenzug entgeht ihr. Selbst der kleinste Tritt aufs Klavierpedal wird registriert und im Kopf in „Klänge“ übersetzt. Wenn allerdings der Dirigent schlampt, wird es brenzlig. „Ich verlasse mich völlig auf ihn. Wenn er nicht präzise den Takt schlägt, bin ich verloren.“

Kathedralen sind Katastrophen

Manchmal ist auch der Konzertsaal das Problem. Obwohl lange vor Tourneebeginn ein Fragebogen an jeden Veranstalter verschickt wird, um die grundsätzlichen Saalbedingungen zu ermitteln, ist man vor Überraschungen nie sicher. Manche Konzerträume haben ein ungeheures Echo oder verschlucken die Töne. „Gotische Kathedralen sind akustisch eine Katastrophe“, weiß Glennie aus Erfahrung.

Allerdings gibt es Möglichkeiten, sich auf ein Interieur einzustellen. „Bei viel Hall spiele ich harte Stöcke und dämpfe die Felle ab, was einen klareren Klang ergibt“, erklärt sie ihr Rezept. „Dazu wähle ich ein langsameres Tempo. Das hilft ebenfalls der Transparenz.“ Glennie verbringt vor jedem Auftritt viel Zeit im jeweiligen Konzertsaal. Es geht darum, sich mit der Akustik vertraut zu machen. Davon hängt viel ab.

Nur manchmal bringt sie eine Schwierigkeit noch kurz ins Schwitzen. Doch keine Panik! Evelyn Glennie ist sensibel für Schwingungen, aber durch nichts so leicht zu erschüttern. Die entscheidende Herausforderung liegt bereits hinter ihr.

Evelyn Glennie: „Wind in the Bamboo Grove“ (BMG-Catalyst 09026-681932)

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