Ein Brief aus Karelien

Am 2. Mai ist ein Jahr vergangen, seit wir, die ehemaligen Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme, aus dem Flugzeug stiegen und deutschen Boden betraten, als Gäste der Stadt Hamburg, eingeladen zur Fünfzigjahrfeier der Befreiung des Konzentrationslagers und des Kriegsendes.

Ich war drei Jahre Häftling in Neuengamme. In dieser Zeit durchlebte ich alles Grauen der Hölle durch das Leben im Lager. Ich arbeitete sowohl im Lager selbst als auch in den Außenkommandos in Osnabrück, Bremen, Hamburg, Bremen-Farge auf der Baustelle des Fabrikbunkers „Valentin“ und in der geheimen Produktion von U-Booten. Was ich in dieser Zeit durchlitten habe, werde ich niemals aus meinem Gedächtnis streichen können.

Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs gab Himmler den Befehl, daß kein Gefangener in die Hände des Feindes – also der Russen und ihrer Verbündeten – fallen dürfe. Diesen Befehl führte der Lagerkommandant, SS-Sturmbannführer Max Paul, widerspruchslos aus. Etwa um den 19. April herum wurde das Lager evakuiert. Man verfrachtete uns in Güterwaggons und brachte uns in den Lübecker Hafen. Von dort aus wurden Gefangene aus 28 Nationen auf die Schiffe „Kap Arkona“ und „Thielbek“ verfrachtet, die vor Neustadt in der Lübecker Bucht lagen. Diese Schiffe sollten anschließend im Nordmeer versenkt werden. Sie konnten aber nicht mehr auslaufen.

Als die Engländer sich Neustadt näherten, zerstörten ihre Luftaufklärer die Schiffe in der Lübecker Bucht, weil sie nationalsozialistische Marineflaggen zeigten. Die SS eröffnete das Feuer auf die englischen Aufklärer. Daraufhin zerstörten englische Bomber die Schiffe. Die „Thielbek“ sank sofort, kaum einer überlebte. Auf die „Kap Arkona“ fielen drei Bomben. Sie fing Feuer und kenterte. Nur sehr wenige wurden gerettet, darunter auch ich.

Der 3. Mai war ein warmer, sonniger Tag, ich wollte leben, aber es war alles vorbereitet für unseren Tod. 7 000 Menschen fanden an diesem Tag ihre Freiheit im grauen Wasser der Ostsee, sie ertranken.

Als wir im vorigen Jahr das Gelände des einstigen Lagers betraten, erlebten wir erneut die Grauen unserer Leiden und Erniedrigung. Und wir fragten uns: Lohnt es sich, all das aus dem Gedächtnis auferstehen zu lassen? Ja, es muß sein, damit sich so etwas nicht wiederholen kann. Nie wieder Faschismus, in keiner Form. Die Jugend unserer Länder soll wissen, welchen Preis die Menschheit für den Frieden gezahlt hat.

Heute wenden wir ehemaligen Gefangenen uns an die Regierungen und Parlamente unserer Länder und bitten sie, alle politischen, ökonomischen und sonstigen Probleme friedlich zu lösen. Unsere Völker wollen in Frieden und Freundschaft leben.

Zum Schluß, aber nicht zuletzt, möchte ich die Gelegenheit ergreifen, mich für die freundliche Aufnahme in Ihrem Land zu bedanken bei:

Dem Bürgermeister der Stadt Hamburg, Henning Voscherau,

dem Generalsekretär der Amicale International des KZ Neuengamme, Fritz Brinkmann,

dem Vorsitzenden der Vereinigung ehemaliger Häftlinge des Lagers Neuengamme Herbert Schemmel,

dem Direktor des Museums Neuengamme Detlef Garbe und seinen Mitarbeitern,

den Sponsoren, den Eheleuten Starke,

dem russischen Konsul und seinen Mitarbeitern für ihre Gastfreundschaft,

und allen, die sich um unsere Delegation gekümmert haben.

Ich wünsche Ihnen allen gute Gesundheit, einen friedlichen Himmel über dem Kopf und alles Gute im Leben.

Nikolaj Simonov, ehemaliger

Häftling des Konzentrations- lagers Neuengamme, Nr. 8092

Übersetzung: Iris Schneider