: Puffmutter wird Tante Erna
■ In Charlottenburg wird immer mehr Wohnraum zweckentfremdet. Hohe Geld- bußen gefordert. Profe: Falsch genutzte Räume müssen wieder Wohnraum werden
Leerstand und Zweckentfremdung von Wohnraum in Charlottenburg gehen zumeist auf die Kappe der sogenannten Besserverdienenden und eines halbkriminellen Milieus. Bei Überprüfungen im Bezirk fällt den Mitarbeitern des Wohnungsamtes immer häufiger ins Auge, daß – trotz leerstehender Büroflächen – Wohnräume in „repräsentativen Ku'damm-Lagen“ hauptsächlich von Kanzleien, Steuerberatern, Immobilienmaklern, Beratungs- und Investmentfirmen belegt werden. Außerdem werden Wohnungen für Stundenhotels oder als illegale Pensionen für Kriegsflüchtlinge mißbraucht.
„Die Zweckentfremdung von Wohnraum stellt sich für den Bezirk und seine Bewohner als enormes Problem dar“, sagte gestern Beate Profé, Charlottenburgs bündnisgrüne Baustadträtin. Kaum weniger alarmierend sei der Anstieg von „leerstehenden Wohnungen aus spekulativen Gründen“. Nach Ansicht Profés ist es nötig, mit „Abschreckung“ zu reagieren. „Man muß die Leute vor Gericht stellen.“ Drastische Geldbußen und die Wiedernutzung der Räume als Wohnungen sollten als Maßnahmen verstärkt werden.
Im vergangenen Jahr haben die Charlottenburger Leerstands- und Zweckentfremdungsfahnder weit mehr als 1.000mal zugeschlagen. Hinweise über leerstehende Wohnungen kamen zu fast 50 Prozent aus der Bevölkerung. 574 Amtsermittlungen gegen zweckfremde Nutzer und Leerstände wurden eingeleitet. „Gleichzeitig konnten in 314 Fällen die Räume wieder als Wohnungen zurückgeführt werden“, so Peter Paul, Chef des Wohnungsamtes.
Strafen hagelte es in 239 Fällen: Fast 1,5 Millionen Mark mußten Zweckentfremder an Zwangs- und Bußgeld zahlen. Einen dicken Fisch machten die amtlichen Wohnungsdetektive dabei auch fest: Für über neun Jahre Zweckentfremdung von Wohnungen in einem Haus mußte ein Vermieter fast 100.000 Mark zahlen.
Die Beweisführung bei der Zweckentfremdung ist nicht immer einfach. In offensichtlichen Gewerbeunternehmen richteten sich die Mieter eine „private“ Kammer ein, „um vorzutäuschen, daß der Nutzer dort wohnt“, erklärte Paul. „Phantastische Geschichten“ seien zudem an der Tagesordnung: Kanzleien mutieren zu neuen „Lebensmittelpunkten“, weil sich die Ehepartner angeblich gerade verkracht haben. Und klingeln die Amtmänner an der Bordelltür, verwandelt sich die Puffmutter zu Tante Erna und der Kunde in einen nahen Bekannten, der zudem mit Dienstaufsichtsbeschwerden droht.
Sorge bereitet der Baustadträtin auch, daß die angezeigten Zweckentfremdungen und Leerstände nicht zügig genug von den Gerichten bearbeitet werden können. Außerdem forderte sie, die Bußgelder sollten nicht nur der Landeskasse, sondern den Bezirken für den Wohnungsbau zugute kommen. Rolf Lautenschläger
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