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Ethik-Experten auf Abwegen

Die Enttabuisierung von „Sterbehilfe“ und „Euthanasie“ kann zu einer Wiederbelebung von Selektionskonzepten in der Medizin führen. Eine Einspruch gegen Reinhard Merkels Plädoyer für eine „Ethik der Unsicherheit“  ■ Von Oliver Tolmein

Die Kontroverse über „Euthanasie“ verläuft in der Bundesrepublik in seltsamen Bahnen: Seit mindestens zehn Jahren wird in den Medien, auf Juristentreffen und Gesundheitstagen, auf Veranstaltungen und Kongressen heftig darüber diskutiert, ob Behinderte ein Lebensrecht haben, ob man Menschen im Wachkoma töten darf, welche gefährlichen Konsequenzen die Enttabuisierung von Selektionskonzepten und die Idee, daß es ein „lebensunwertes Leben“ gebe, haben.

Seit 1989 sind in deutschen Verlagen mindestens zwei Dutzend Titel zum Thema erschienen (nicht gerechnet die Dissertationen, Magister- und Diplomarbeiten). Und doch gehört es zu den Lieblingsübungen von „Euthanasie“-Befürwortern wie Reinhard Merkel, in ihren Interviews und sonstigen Veröffentlichungen zu beklagen, daß die Gesellschaft, die Diskussion „nicht annimmt“. Die Diskussion annehmen – das heißt demnach wohl sie auch lieb haben müssen: Wir sind schließlich alle eine große verständnisinnige Diskursgemeinschaft. Oder, wie der Philosoph Ernst Tugendhat vor längerer Zeit einmal recht deutlich in der taz formuliert hat: „Die Auseinandersetzung ist zwar im negativen Interesse der Behinderten, sie ist aber zugleich im positiven Interesse aller.“

Merkel behauptet, es sei ihm vordringlich darum zu tun, daß die Gesellschaft sich mit „Entscheidungsproblemen“ und „Fällen“ auseinandersetzt (er spricht wohl nicht zufällig, als wollte er uns motivieren, einen Aktenberg abzutragen). Das Ergebnis einer solchen „Beschäftigung“ wäre, daß das Leben von behinderten Neugeborenen, aber auch zum Beispiel das von Menschen im Wachkoma, verfügbar gemacht wird. Merkel will klären, „wann man bestimmte Menschen sterben lassen darf“ – wobei „sterben lassen“ recht freundlich nach Erlaubnis klingt und den Anschein erweckt, hier gehe es darum, daß ein Mensch in Ruhe gelassen und nicht mehr in dem, was als High-Tech-Kabinett der Intensivmedizin einen unverdient schlechten Ruf genießt, sozusagen genötigt werde weiterzuleben.

Obwohl es den Bioethikern, wie unten zu zeigen ist, oft um Entscheidungen in ganz anderen Situationen geht, liegt auch Merkel daran, diesen Eindruck aufrechtzuerhalten. Deswegen berichtet er von einem „Fall“, von einem acht Monate alten Jungen mit zentronuklearer Muskelmyopathie, einer folgenreichen Lähmung, die meist zur Folge hat, daß das Kind nur wenige Monate lebt. Der Fachmann in Sachen „Ethik in medizinischen Extremsituationen“ (taz) nutzt die Geschichte dieses Jungen, um uns mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß der Tod für das Kind wohl besser sei als das Leben: Deswegen skizziert er die Behinderung in den düstersten Farben. Zwar erwähnt Merkel auch, daß es „im Leben dieser Kinder gewiß Empfindungen von Freude und Leid gibt“, er verschwendet darauf aber keinen weiteren Gedanken, sondern zieht sogleich knapp Bilanz: „Ich halte ihre Situation aber für furchtbar.“

Einfühlung statt Musterdiagnose

Nicht das Leben der so behinderten Kinder interessiert den Rechtsphilosophen, sondern die gute Gelegenheit, den Tod herbeizuführen: „Wenn ein Arzt sagen würde, bei der nächsten Lungenentzündung interveniere ich nicht mit Antibiotika, damit der Junge sterben kann, würde wahrscheinlich niemand von uns den Arzt für einen Schwerverbrecher halten.“ Merkel spart sich an diesem Punkt das Argument, weil er darauf vertraut, daß die Schilderung der Behinderung eindrucksvoll genug ist, jeden Einwand verstummen zu lassen.

Tatsächlich sind durchaus Konstellationen vorstellbar, in denen es ein Verbrechen darstellt, auch einem Kind mit diesen Symptomen die lebensrettende Behandlung einer akuten Lungenentzündung zu verweigern. Um sie zu erkennen, muß man noch mehr sehen und beschreiben können als die paar typisierten Indizien: Statt den Blick starr auf das Krankenblatt und die darauf vermerkte (gerade bei diesen extremen Krankheitsbildern weder schnell noch mit zuverlässiger Prognose zu treffende) Diagnose zu richten, gälte es, sich mit dem Kind auseinanderzusetzen, sich darauf einzustellen, seine Möglichkeiten zu erkunden, seine Eigenheiten (und nicht nur die Krankheitstypologie) festzustellen und so gut es geht zu entwickeln. Interessant sind doch gerade die Empfindungen von Freude und Leid, wie sie sich zeigen, wie sie zu beeinflussen sind, und nicht die Wertung des Ethikers. Sie zu erschließen erfordert eine ganz andere Auseinandersetzung mit den Kindern (und deren Eltern), die nicht in das enge Raster einer aufs bioethische Entscheidungsmodell ausgerichteten Fallbeschreibung zu zwingen ist. Und wenn sich aus dieser Perspektive zeigt, daß ein Arzt, vielleicht weil er auf ein therapeutisches Modell fixiert ist, in dem schwere Behinderungen nur als Niederlagen einer auf Herstellung von Normalität gerichteten Medizin zählen, die akute Krankheit eines solchen Kindes nicht ausreichend behandelt, dann, in der Tat, kann das ein Verbrechen sein.

Deswegen ist es auch, anders als Merkel meint, keine Perversion des Strafrechts, daß eine unterlassene Lebensrettung durch den behandelnden Arzt als Tötung durch Unterlassen qualifiziert wird, es ist vielmehr zwingende Konsequenz des Gleichheitsgrundsatzes der Verfassung: Nicht nur das Leben von Nichtbehinderten, das auch Bioethiker als produktiv und erfreulich beurteilen, muß geschützt werden, sondern gerade auch das Leben von Menschen, die sich nicht dagegen wehren können, daß ihnen jemand zu einem schnellen Tod verhelfen will – und zwar unabhängig davon, ob er aus fürsorglichen oder aus gesundheitsökonomischen Motiven handelt.

Im übrigen weiß Merkel sehr genau, daß der Arzt, der in der vom ihm skizzierten Konstellation entscheidet, die Lungenentzündung nicht zu behandeln, auch heute schon keineswegs als „Schwerverbrecher“ behandelt würde. In der Regel käme es, was nicht richtig sein muß, aber eben der Praxis entspricht, nicht einmal zu einem Ermittlungsverfahren. Wenn die Staatsanwaltschaft doch tätig werden würde, würde das Verfahren wahrscheinlich noch vor der Klageerhebung eingestellt.

Charakteristisch für die Haltung der Strafjustiz sind die Ereignisse in Freiburg 1980: Bei einem behinderten Kind wurde dort zusätzlich ein Darmverschluß diagnostiziert, der hätte operiert werden müssen. Weil die Eltern die Einwilligung in die Operation aufgrund der sonstigen körperlichen Beeinträchtigungen verweigerten, ordnete das Vormundschaftsgericht die Operation an. Daraufhin verweigerte der Anästhesist die Mitwirkung an der Operation. Der lebensnotwendige Eingriff unterblieb, das Kind starb nach zwölf Tagen an einem septischen Schock. Die Staatsanwaltschaft stellte die Ermittlungen gegen die Eltern und den Anästhesisten ein. Diese Entscheidung wurde in der strafrechtlichen Literatur zwar vereinzelt kritisiert. Dabei spielte aber eine wichtige Rolle, daß das Neugeborene nicht geistig behindert gewesen wäre – also nach Ansicht mancher Kommentatoren ein grundsätzlich akzeptables Verhalten nur am falschen Subjekt exerziert worden war.

Lockerungsübungen der Philosophen

Es besteht also keineswegs, wie Merkel nahelegt, die Gefahr, daß die Justiz exzessiv gegen Ärzte vorgeht, die ihren Patienten Sterbehilfe leisten. Das Gegenteil ist richtig: Selbst in äußerst problematischen Fällen neigt die Rechtsprechung (und erst recht die Lehre, wie ein Blick in die in den letzten Jahren veröffentlichten Aufsätze und in den von namhaften Professoren getragenen, im Einzelfall sogar aktive Tötungshandlungen erlaubenden Alternativgesetzentwurf Sterbehilfe zeigt) dazu, den Lebensschutz von Menschen mit Behinderungen geringzuschätzen, weil sie, wie Merkel, davon ausgeht, daß der Tod einem Leben mit schweren Behinderungen vorzuziehen ist.

Daß dessen Insistieren auf einer Lockerung des Tötungsverbots, ginge es ihm nur um das im taz-Interview beschriebene Ziel, nicht notwendig ist, müßte sich für Merkel auch schon aus seinen eigenen Zahlen ergeben: Obwohl nämlich seiner Meinung nach jährlich 2.000 Neugeborene „liegengelassen“, also durch das Unterlassen der gebotenen Pflege und Behandlung getötet werden, hat in den letzten fünfzehn Jahren in den alten Bundesländern keine einzige Verurteilung wegen eines solchen Delikts trotz der sonst ausgiebigen Diskussion des Themas die Öffentlichkeit und die juristische Fachpresse nachhaltig beschäftigt (wenn es denn überhaupt eine gegeben haben sollte).

Allerdings gibt es auch keine stichhaltigen Indizien, daß die von Merkel genannte Zahl heute auch nur annähernd zutreffend ist: Die Fortschritte in der Neugeborenen- Intensiv-Medizin und die kritische Haltung von erheblichen Teilen der Öffentlichkeit zu Neugeborenentötungen dürften vielmehr dazu geführt haben, daß sich die Zahl von „liegengelassenen“ Kindern nachhaltig verringert hat. Es ist ja auch bezeichnend, daß in der medizinethischen Debatte zwar immer wieder, auch von Merkel, behauptet wird, es gehe darum, die Ärzte „nicht allein zu lassen“ – tatsächlich sind es in der Bundesrepublik aber vor allem Philosophen und Juristen, die sich für eine Lockerung des „Lebensschutzes“ stark machen, während oft Ärztinnen und Ärzte, die in den Kliniken tätig sind, hier weitaus restriktivere Positionen beziehen.

Es ist auch kein Zufall, daß es der Bundesgerichtshof war, der mit seinem 1994 gesprochenen Urteil im sogenannten „Kemptener Fall“ das ärztliche Standesrecht ignoriert und Rechtfertigungsgründe nicht nur für die Sterbehilfe (also die Hilfe im Sterben), sondern für die „Hilfe zum Sterben“ (also die Tötung eines Menschen, der sich nicht im Sterbeprozeß befindet) anerkannt hat: Das Verhungernlassen einer Frau im Wachkoma, die auf künstliche Ernährung angewiesen ist, sollte demnach erlaubt sein, wenn die Frau „mutmaßlich“ in diesen Nahrungsmittelentzug eingewilligt hätte.

Durch die BGH-Entscheidung sehen sich Teile der bundesdeutschen Ärzte allerdings in Zugzwang gebracht und überlegen, die eigenen Richtlinien an die Rechtsprechung und ähnlich weitgehende Richtlinien der Schweizer Akademie der Wissenschaften anzupassen. Reinhard Merkel, der sich in seinem taz-Interview bemüht, als Vertreter einer bedenkenreichen, moderaten Linie zu erscheinen, hat dieses BGH-Urteil in einer juristischen Fachzeitschrift kritisiert: Nicht weil er es falsch findet, einen pflegebedürftigen Menschen verhungern zu lassen, sondern weil es ihm unnötig erscheint, sich über eine individuelle „mutmaßliche Einwilligung“ in diesen Tod Gedanken zu machen. Merkel möchte Ärzten gerne eine generelle Lizenz zum Abbruch der künstlichen Ernährung bei diesen hirngeschädigten Patienten geben. Er behauptet, daß die Wachkomapatienten kein „personales Subjekt“ mehr seien. Das einzige Problem erscheint ihm die Frage, „wie zu entscheiden ist, wenn ein Patient im irreversiblen appallischen Syndrom zuvor seine unbedingte Lebenserhaltung verlangt hat“. Er gibt keine Antwort, legt sie aber nahe, indem er auf die „genau an dieser Stelle [stattfindende] Kollision gesellschaftlicher Interessen an einer gerechten Ressourcenverteilung in der Medizin mit solchen des einzelnen“ verweist, wobei er die Interessen der Komapatienten, die er als „personal entleerte Hülle des eigenen Körpers“ bezeichnet, nachhaltig relativiert: Über die „grundrechtlich geschützten Lebensinteressen“ sollen sie nämlich, mangels personaler Subjektivität, nicht mehr verfügen.

Merkel tritt hier in die Stapfen des positivistischen Strafrechtslehrers

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Karl Binding, der in den zwanziger Jahren auch vehement für die Freigabe der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ stritt, damit nicht „leere Menschenhülsen“ in ihrem angeblichen eigenen, aber eben auch im gesellschaftlichen Interesse mit moderner Medizintechnik am Leben gehalten werden würden.

Ein Fall von Kostendämpfung?

Merkel ahnt, daß diese Entscheidungen, die auf den vorzeitigen Tod von nun tatsächlich Tausenden behinderten Neugeborenen und schwerbehinderten alten Menschen zielen, nur wenige ÄrztInnen ohne weiteres treffen werden. Deswegen plädiert er in seinem Aufsatz in der Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (ZStW 107, 545 (1995)) an „die Wissenschaft“ und an den Gesetzgeber. In der taz, deren LeserInnen er wahrscheinlich und hoffentlich zu Recht für zarter besaitet hält, engagiert er sich für Ethikkommissionen. Die zugrunde liegende Überlegung ist identisch: Entlastung von individueller Verantwortung durch Delegation an spezialisierte Gremien, die ihrerseits nicht in dauerhaftem direktem Kontakt mit den Menschen stehen, über deren Tod sie deswegen viel „sachlicher“ entscheiden können. Genau dazu darf es aber nicht kommen: Die unmittelbare individuelle Verantwortung des behandelnden Arztes und der behandelnden Ärztin für ihr Tun und Unterlassen ist eine Grundvoraussetzung für eine Medizin, die sich dem Leistungsparadigma dieser Gesellschaft nicht vollständig anpaßt und sich nicht zur Vollstreckerin einer besonders brutalen Form von Kostendämpfung und Entsorgung sozialpolitischer Schwierigkeiten machen läßt.

Um zum Ausgangspunkt zurückzukehren: Es gibt tatsächlich reichlich Diskussionsbedarf über medizinische Behandlungen im Krankenhaus, über die Möglichkeiten, ein weitgehendes Selbstbestimmungsrecht für PatientInnen auch im Sterben, über die Situation im Pflegesektor, auch über die Allokation von Mitteln im Krankenversorgungssektor. Emanzipatorische, zu humaneren Verhältnissen führende Ideen können in dieser Diskussion aber nur entwickelt werden, wenn einerseits bedingungslos anerkannt wird, daß alle Menschen (und dazu gehören behinderte Neugeborene ebenso wie Menschen im Wachkoma) ein Recht auf Leben haben und andererseits von der Vorstellung Abschied genommen wird, es gebe Krankheitsbilder oder Behinderungen, die ein Leben an sich lebensunwert machten.

Das Ziel einer solchen Debatte über die Perspektiven der Medizin und die Probleme des intensivmedizinischen Fortschritts kann nur die Verbesserung der Lebenssituation von behinderten oder schwerkranken Menschen sein – nicht die Entwicklung von Verfahren, die es Ärzten ermöglichen, sich die als kritisch empfundenen „Fälle“ möglichst risikolos vom Hals zu schaffen.

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