piwik no script img

Gespenster eines toten Mannes

In Bochum wurde Heiner Müllers „Germania 3“ uraufgeführt  ■ Von Gerhard Preußer

Ein toter Dichter weint dem toten Sozialismus eine Träne nach. Wen interessiert das noch?

Der deutsche Dichter heißt nun Heiner Müller, und schon ist alles hochinteressant. Seit sechs Jahren wartet man auf Deutschland-Müllers letztes großes Werk. Im letzten Jahr hieß es, es sei fertig. In Bochum sollte die Uraufführung sein; dann, in der Arbeitswut seiner letzten Monate, wollte Müller es selbst am Berliner Ensemble uraufführen. Durch seinen Tod wurde diese Arbeit abgebrochen, und wieder hat Bochum einen Vorsprung.

Ein Abschieds- und Gedächtnisstück ist es geworden. Erinnerung an Heiner Müller, an den deutschen Sozialismus. Nichts Neues also, sondern Wiederholung, Totenmesse. Neugier wird von Toten nicht befriedigt.

Die Aufführung beginnt mit einer Verweigerung des Zukunftsdramas. Zwei Schauspielerinnen sprechen Heiner Müllers Textfragment „Krieg der Viren“. Ein Autor trägt einem Regisseur aus seinem neuen Werk vor. „Das Verbrechen der Liebe das uns zu Paaren treibt / Und den Planeten zur Wüste macht durch Bevölkerung ... Gott ist kein Mann keine Frau ist ein Virus“. Dann beklagt der Stückeschreiber sich beim Regisseur. „Du hörst mir nicht zu.“ „Stimmt. Warum sollte ich. Wir sind im Theater.“

Theater, das ist für Müller ein Raum für Erinnerungen, nicht für Prognosen. In seinem 1991 veröffentlichten Gedicht „Mommsens Block“ hatte Heiner Müller seine Schreibhemmung angesichts der Gegenwart gestanden. Der Gestus des Geschichtsschreibers war es, der ihn anzog.

Wer nun nach 1989 von Heiner Müller die neue Einsichten vermittelnde Epochenbilanz erwartete, wurde auch enttäuscht. Müller schlägt zwar den großen Bogen von Stalingrad zum Mauerbau, doch das ist der Bogen seines Lebens. Er gehörte noch zu der Generation, deren Leben durch Geschichte geprägt wurde. Und zu einem Dramatiker von Rang wurde er auch dadurch, daß seine individuellen Traumata sich mit den Wahngestalten des kollektiven Unbewußten der Deutschen deckten. Daß er nicht von seinen Themen, Obsessionen loskommt, ist seine Stärke, nicht seine Schwäche. Der Geschichtsdramatiker unterscheidet sich vom Geschichtsschreiber durch die fehlende Verpflichtung zur Objektivität. Müller wußte, daß man als großer Autor immer nur an dem einen Lebenswerk arbeiten kann. So baut er die Wiederholung schon in den Titel ein: das dritte „Germania“-Stück nun, nach „Germania Tod in Berlin“ und „Die Schlacht“.

Dieselben Figuren, dieselbe Dramaturgie, wörtliche Selbstzitate – in der Variation nur zeigt sich der Wandel der Zeit, in der Wiederholung die Identität der Person. Das Stück beginnt mit einer Szene, die eigentlich schon zu „Germania Tod in Berlin“ gehörte und nur aus politischen Rücksichten damals nicht mitaufgenommen worden war: „Nächtliche Heerschau“. Thälmann fragt: „Was haben wir falsch gemacht.“ Diese Frage, die heute jedes Kind mit „Der Sozialismus war der Fehler“ abtut, fragt das Stück.

Stalin und Hitler treten auf, und Müller betont die Parallelität der historischen Figuren. Er läßt sich weder zur Verharmlosung des Stalinismus als Reaktion auf Hitler noch zur umgekehrten Relativierung der Naziverbrechen als Reaktion auf russische Revolutionsgreuel verleiten. Eine tragische Ausgewogenheit herrscht in den Stalingrad-Szenen. Bei den Deutschen kämpfen desillusionierte Kommunisten für Hitler, bei den Russen patriotische Dissidenten für Stalin. Nur in einer Szene wagt Müller einen kurzen Blick auf die Gegenwart. Drei adelige deutsche Damen lassen sich im Zusammenbruch von 1945 von einem kroatischen SS-Mann umbringen, um den Russen zu entgehen. Dann kommen mit der Parole „Rückgabe vor Entschädigung“ auf den Lippen zwei schnöselige Erben ins Schloß und planen, einen Reiterhof hier anzulegen.

Die DDR-Szenen werden zum Satyrspiel der deutschen Tragödie. Erst sieht man drei Brechtwitwen (auf der Bühne dürfen ihre Namen genannt werden, im Programmheft nicht) sich 1956 um Brechts Stahlsarg bemühen, dann erlebt man eine Party in Frankenberg, Sachsen, in die die Nachricht von der Geheimrede Chruschtschows auf dem XX. Parteitag gegen Stalin platzt. Unter den versammelten Ortshonoratioren fällt der Sohn des Bürgermeisters durch besonders energischen erotischen Zugriff und zynische Sprüche auf. Und dann zitiert er einen Text, der die Reihe der in die vorangegangenen Szenen einmontierten Zitate aufs schönste abschließt. Auf Hölderlin, Kleist, Hebbel, Grillparzer, Brecht und Kafka folgt nun – Heiner Müller. Dieser Sohn ist ein leicht verfremdetes (in Müllers Erinnerungen spielt die Szene 1951 statt wie im Stück 1956), ironisches Selbstportrait des Autors als junger Mann. „Wir leben in einer Traumphase, einer angehaltenen Zeit“, sagte Müller in einem seiner letzten Interviews, „Da staut sich alles, was war, aber Neues ist nicht greifbar.“ Zitate sind die Sätze der Träume, und das Selbstzitat ist die Sprache des Alptraums.

Der junge Mann, der die Uraufführung inszeniert hat, Bochums Intendant Leander Haußmann, sieht das ganze sozialistische Requiem aus erheblicher Distanz. „Karnevalistischen Klassizismus“ nannte Heiner Müller einmal den einzigen heute möglichen Stil. Haußmann bietet viel Karneval und wenig Klassizismus. Haußmann sorgt dafür, daß bei Müllers Totenbeschwörung dem Publikum am Tisch die Zeit nicht lang wird. Sein Stalin (Gennadi Vengerov) redet echtes Russisch und sein Hitler (Heiner Stadelmann) räuspert sich wie der echte Heiner. Müllers äußerst präzise Szenen, die die moralischen Antinomien oft in wenigen Sätzen scharf kontrastieren, werden durch akustisches Assoziationsmaterial aufgeblasen, oft auch aufgeweicht. Müllers Schreckensbilder werden zwar gezeigt, aber durch die vorangestellte Rezitation der sie beschreibenden Regieanweisungen einer unmittelbaren Wirkung beraubt.

Im DDR-Teil des Stückes ist der Regisseur dann ganz zu Hause und macht die Szene im Berliner Ensemble zur effektvollen Kabarettnummer. Die Brechtwitwen haben Bärte und studieren mit dem Schauspieler des Kleinen Mönches aus Brechts „Galilei“ tongenau Brechts Modelldeklamation ein. In diese deftige Theaterparodie passen improvisierte Glückwünsche für Martin Wuttke, den neuen Intendanten des BE. Dann schiebt sich eine mechanische, elektronisch gesteuerte Vorzeitechse humpelnd und aus zwei Leuchtaugen blinkend auf die Bühne. Das Wunderwerk eines genialischen Bühnenbastlers spricht: Aus seinem Maul hören wir mit altem Plattenrauschen vermischt Brechts „An die Nachgeborenen“. Der DDR-Dinosaurier Brecht redet technisch reproduziert zu uns.

Das Amüsement steigert sich noch, wenn Haußmann bei der Party-Szene die angetrunkenen Gäste in das „Lied vom Schollenfresser“, eine originale DDR- Hymne, zu singen bei der Traktorenreinigung, ausbrechen läßt. Dem ungläubigen Publikum wird der Text auf eine Leinwand zum Mitlesen projiziert.

Das Vergnügen wäre perfekt, wenn nicht Heiner Müllers letzte Szene käme. Der hermaphroditische Clown (Steffen Schult), der als Conférencier die Szenen verband und kommentierte, entpuppt sich als Rosa Riese, der Frauenmörder, in dem uns Müller ein Rätselbild für die im Individuum verankerte, gesellschaftlich vermittelte, für die in der deutschen Geschichte immer latente Brutalität mitgibt. Mit dem Kosmonauten- Spruch „Dunkel ist der Weltraum, sehr dunkel“ entläßt uns dann der tote Dichter in die Zukunft.

„Was haben wir falsch gemacht?“ Die Frage erweist sich als unbeantwortbar. Nicht nur weil sich in historischer Perspektive alle Schuld in Wechselwirkung auflöst. Für das Scheitern des Sozialismus führt das Stück viele Gründe an: Rosa Luxemburgs Ermordung, die Übernahme der Kesselschlachtstrategie durch Stalin, die Anpassung an den Feind, die Nazis. In seinen Antworten ist Heiner Müllers letztes Stück so ausgewogen, daß es allen Goethe-Institutionen zum Deutschunterricht für Fortgeschrittene empfohlen werden kann. Nur seine Fragestellung ist noch peinlich für die Gegenwart.

Heiner Müller: „Germania 3 Gespenster am Toten Mann“. Schauspielhaus Bochum. Regie: Leander Haußmann. Weitere Vorstellungen: 30. 5., 11., 16., 26. 6.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen