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Häftling 22.327 bekommt keinen Zloty

Die Überlebenden mußten und müssen noch immer um ihre Entschädigung kämpfen: Ehemalige polnische KZ-Häftlinge treffen sich im Klub und beim Arzt und helfen sich gegenseitig  ■ Aus Zgorzelec Karin Graf

„Die Braunen kommen“, ruft jemand in den Klubraum. Braune, das ist ein Schimpfwort für die Deutschen. Kein guter Anfang.

Die Begrüßung ist dann doch herzlich. In der Runde sitzen Frauen und Männer, alle waren sie in deutschen Konzentrationslagern interniert, alle sind über siebzig Jahre alt. „Unser Küken muß arbeiten“, sagt einer. Das „Küken“ ist 54 Jahre alt und hat Auschwitz als Säugling überlebt.

Die Zgorzelecer Vereinigung der Verfolgten des Hitlerregimes hat in einem niedrigen Haus zwischen Wohnblocks einen Klubraum und ein ärztliches Behandlungszimmer. Einmal in der Woche kommt ein Arzt. Sein Honorar bezahlt ein anonymer Spender „von euch“. Die Medikamente kommen von einer Kasseler Apotheke. Umbau und Ausstattung hat eine Ärztin aus Berlin zusammengebettelt.

Die ehemaligen Häftlinge treffen sich beim Arztbesuch oder hier im Klub. „Wir reden darüber, was hier so passiert, in Polen und zu Hause“, sagen sie. Eine Frau wirft ein: „Aber vor allem reden sie über Auschwitz, Buchenwald, Stutthof, über die Lager. Meistens sofort, wenn sie reinkommen. Und dann stundenlang.“ Sie selbst spricht nie über „ihr“ Lager, über Ravensbrück.

In Zgorzelec, dem grauen Städtchen gegenüber von Görlitz an der polnisch-deutschen Grenze, leben noch fünfzig ehemalige Häftlinge. Bei Gründung ihrer Vereinigung 1981 waren sie noch 112. Stanislaw Hantz, Initiator und Vorsitzender, ist zufrieden mit der Entschädigungszahlung und argumentiert pragmatisch: „Wir sind alt, viele von uns krank, einige schon seit Jahren im Rollstuhl. Wie sollen wir noch kämpfen? Unser Leben ist fast vorbei.“

Er bekam 1993 seinen Scheck von der Stiftung für deutsch-polnische Versöhnung aus Warschau: „Da war ich auf einen Schlag vielfacher Millionär, aber leider nur ein Zlotymillionär.“ Umgerechnet waren es etwa 2.500 Mark, pro Monat Konzentrationslager für ihn also 50 Mark. Sein Kommentar: „Hab' ich gegessen und gewohnt in Auschwitz, hab' ich deutsche Sprache gelernt, hab' ich Ausbildung als Zimmermann gemacht. Und alles umsonst. Und bekomme ich jetzt noch fünfzig Mark pro Monat geschenkt. Was hab' ich für Glück.“ Und fügt hinzu: „Hab' ich auch umsonst deutsche Lieder gelernt“, und schmettert: „Schwarzbraun ist die Haselnuß.“

Und Hantz hatte tatsächlich Glück. Er bekam die größte Entschädigungssumme in Zgorzelec. Das ist dem Umstand zu verdanken, daß er seine fast fünfjährige KZ-Zeit lückenlos belegen kann. Dies können die wenigsten der ehemaligen Häftlinge. Ihnen fehlen die Nachweise. Zum Beispiel Barbara N.: Beim Aufstand im Warschauer Ghetto 1944 war sie zusammen mit ihren Eltern, dem Bruder, der Schwester und dem Schwager verhaftet worden. Sie kennt zwar ihre Häftlingsnummer aus Ravensbrück. Die stand dort auch in den Akten, aber ohne ihren Namen. Die Anfrage der schwerkranken Frau beim Internationalen Roten Kreuz blieb bis zu ihrem Tod unbeantwortet.

Leer ausgegangen ist auch Henryka L. Sie mußte zwangsweise bei einer deutschen SS-Familie arbeiten und floh. Von der Gestapo wieder eingefangen, entkam sie aus dem Gefängnis, schloß sich dem Untergrund an und verteilte illegale polnische Zeitungen. Darauf ist sie stolz. Sie wurde ein drittes Mal gefaßt und kam nach Ravensbrück. Das Datum hat sie nicht vergessen, es war der 26. August 1943. Sie erhielt die Häftlingsnummer 22.327.

Weitere, vor allem schriftliche Nachweise hat sie nicht. Eine Anfrage beim Bürgermeister von Neubrandenburg, wo sie in einem Nebenlager von Ravensbrück gearbeitet hatte, brachte ihr 1995 eine neue Kränkung: „Von einem KZ ist mir nichts bekannt.“ Ein Blick in einen KZ-Lageplan hätte den Mann eines Besseren belehrt. Henryka L. ist wütend. Auf die Deutschen sowieso – aber auch auf die Stiftung, deren Nachweiskriterien sie nicht erfüllen kann.

Witek E. kann seinen Aufenthalt in Großrosen lückenlos nachweisen. Nicht belegbar war seine Haft im Gefängnis Mislowice. „Dort war ich mit meinem Bruder im Todesblock, acht Monate lang. Die Deutschen wollten uns dazu bringen, unseren Vater zu belasten. Diese schwerste Zeit in meinem Leben will ich anerkannt haben.“ Letztlich gelang ihm dies mit einer Bescheinigung seines Arbeitgebers, der ihm bestätigte, daß er am Arbeitsplatz verhaftet wurde und danach nicht wieder aufgetaucht war.

Als Witek E. von seinem in Auschwitz umgekommenen Bruder, „jung, schön und hochqualifiziert“, spricht, bricht er in Tränen aus. Die Gruppe schaut ruhig zu und läßt ihn ausweinen. „Heute ist nicht damals“, sagt jemand. Und einer legt die Hand auf seinen Arm. Die Gemeinschaft hat Übung im Umgang mit der Trauer. Irgendwann springt Witek E. auf und schlägt auf ein unsichtbares Gegenüber ein: „So habe ich den Lagerkommandanten von Großrosen zusammengeschlagen. Das war in Dachau, kurz nach der Befreiung.“

„Wir widersprechen dem nicht“, sagt einer, als Witek E. sich verabschiedet hat, „obwohl wir wissen, daß das nicht stimmt. Aber das ist seine Wahrheit. Jeder von uns hat einen Vogel.“ „Das steht sogar in den Akten“, fügt ein anderer hinzu, „der Vogel heißt KZ- Syndrom.“

Leer ausgegangen war auch Herr Z., weil er den grünen Winkel getragen hatte. Er kann fünf Jahre Lager Gusen belegen. Zum Kriminellen wurde er für die Nazis, weil er ohne Genehmigung geschlachtet hatte. Sein Widerspruch bei der Stiftung ging vor einigen Monaten zu seinen Gunsten aus. Zwei ehemalige Häftlinge aus Zgorzelec starben zwischen Antragstellung und Erhalt ihrer Entschädigung. Einer an dem Tag, an dem der Scheck in seinem Briefkasten lag. Die Witwen der beiden Männer bemühten sich um eine Übertragung des Anspruchs. Eine starb vor der Entscheidung, die andere erhielt das Geld.

Zu verteilen waren von der Stiftung für deutsch-polnische Versöhnung 500 Millionen Mark an etwa 50.000 noch lebende polnische Nazi-Opfer. Um Nachfolgeforderungen aus anderen Staaten vorzubeugen, wurde kein bilateraler Vertrag geschlossen, sondern eine deutsche „Spende“ an die Stiftung gezahlt. Wichtigste Passage des Abkommens ist für Deutschland eine Verzichtserklärung auf weitere Forderungen. Ausgenommen davon sind individuelle Anträge. Heute, etwa fünf Jahre nach jener Vereinbarung, ist jedoch das Geld fast vollständig ausgezahlt.

Die Kritik an der so späten Entschädigung der ehemaligen Häftlinge und ZwangsarbeiterInnen ist vielfältig. Zu wenig, zu spät – das kritisieren die Betroffenen zuerst. Aber was wäre angemessen? Dazu schweigen sie zunächst. Dann, bedächtig, sagt Herr H.: „In Geld ist das nicht auszudrücken. Die Deutschen müßten unser Leid und damit auch ihre Schuld anerkennen. Darum geht es.“

„Für das, was wir erlebt haben, kann man keine Summen nennen“, sagt Zofia Z. Und: „Wenn es dennoch um Summen gehen soll, dann um richtige.“ Einige haben ihre Wohnung von der Entschädigung rennoviert, andere eine Waschmaschine oder einen Fernsehapparat gekauft oder ihre Wohnung behindertengerecht ausgebaut: „Ist doch besser als nichts. Wir haben ja auch noch unser Leben behalten.“

Welches Verhältnis haben sie heute zu den Deutschen? „Gut“ ist die erste, vorsichtige Antwort. Und: „Es gibt solche und solche, wie bei uns auch.“ „Ich habe keinen Kontakt zu Deutschen“, sagt eine Frau, und ihre Stimme teilt mit, daß das auch so bleiben soll. Was sie über die Neonazis denken? „Das ist euer Problem“, meint einer. Aber auch: „Abends gehe ich nicht mehr über die Brücke.“ Das heißt: nach Görlitz auf der anderen Seite der Neiße. In Polen, „bei uns“, sagen sie, „gibt es jetzt auch junge Nazis. Aber die werden von den Alten verjagt, von uns.“

Das Gespräch ertrinkt im besten polnischen Wodka. Irgendwann stehen ein paar weißhaarige Männer stramm. „Mützen auf, Mützen ab“, schreien sie. Und: „Die Augen links – rechts – geradeaus – das ganze Schutzhaftlager stillgestanden – Arbeitskommando formieren“, und so weiter. Sie lachen, aber in ihren Augen stehen Tränen.

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