: Hauen und Stechen in der Ukraine
■ Der Präsident feuert den Regierungschef. Und will damit die Kommunisten für seinen Verfassungsentwurf gewinnen
Berlin (taz) – Die Amtszeit des ukrainischen Premierministers Jewgeni Martschuk dauerte gerade mal 353 Tage. Am Montag war es dann soweit: In der Kabinettssitzung verkündete Staatspräsident Leonid Kutschma die Entlassung seines Regierungschefs. Anstatt die Wirtschaftsreformen voranzutreiben, habe sich Martschuk mehr um die Pflege seines Images gekümmert, begründete der Präsident den Rausschmiß. Jetzt übernimmt der parteilose Landwirtschaftsfachmann und bislang erste stellvertretende Ministerpräsident Pawel Lasarenko, der als Mann Kutschmas gilt, das Ruder.
Überraschend kam das Ende für den 55jährigen ehemaligen Geheimdienstchef der Ukraine nicht. Denn die Regierungskrise schwelt schon länger. Erst in der vorletzten Woche hatte Martschuk in einem Interview mit der ukrainischen Wochenzeitung Serkalo nedeli seinem Unmut über Kutschma Luft gemacht. Die Politiker sagten das eine, täten das andere und dächten dabei noch etwas Drittes. So habe er sich die Zusammenarbeit bei seinem Amtsantritt nicht vorgestellt, sagte Martschuk.
In der vergangenen Woche stand ein Rechenschaftsbericht Martschuks über den Abbau von Schulden bei Gehältern, Renten und Stipendien auf der Tagesordnung des Parlaments. Die Bilanz sieht nicht gut aus: Der ukrainische Staat steht allein bei der Auszahlung von Gehältern mit umgerechnet 540 Millionen Mark in der Kreide. Die Fraktion der Kommunisten brachte daraufhin einen Antrag auf Entlassung der gesamten Regierung ein, was „dem Präsidenten die reale Chance gab, sich des widerspenstigen Premiers mit Hilfe der Abgeordneten zu entledigen“, wie die russische Tageszeitung Segodnja bemerkte.
Daß Kutschma gerade jetzt zum Schlag gegen Martschuk ausholte, ist alles andere als ein Zufall. Der Präsident buhlt um die Gunst der Linken im Parlament, um die stockende Verfassungsdiskussion zum Abschluß zu bringen. Im Jahre 5 nach der Unabhängigkeit hat die Ukraine immer noch keine nachsowjetische Verfassung. Als provisorisches Grundgesetz dient das „Gesetz über die Macht“ vom Juni 1995 – ein Kompromiß, den Kutschma dem Parlament in zähen Verhandlungen abgerungen hatte. Das Gesetz räumt dem Präsidenten erhebliche Machtbefugnisse ein. So kann er beispielsweise die Regierung bilden und Regierungsverantwortung übernehmen.
Eine starke Stellung des Staatschefs möchte Kutschma auch in der neuen Verfassung festgeschrieben wissen, nicht zuletzt, um für die Durchsetzung marktwirtschaftlicher Reformen freie Hand zu haben. Doch da wollen die Kommunisten, die noch 1994 mit dem Wahlslogan „Alle Macht den Räten“ geworben hatten und mit 20 Prozent der Mandate die stärkste Fraktion stellen, nicht mitspielen. Sie fordern eine Aufwertung der russischen Sprache und eine weitgehende Abhängigkeit der Exekutive von den gewählten Organen. Mittlerweile liegt der Entwurf einer Sonderkommission dem Parlament zur Debatte vor. Die Kommunisten haben gedroht, einen Alternativentwurf auf die Tagesordnung setzen zu lassen.
So strittig wie der Inhalt ist auch die Verabschiedung der neuen Verfassung. Kutschma will das Gesetzeswerk dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Sonst könnte sich ja jedes Parlament seine eigene Verfassung zimmern, ließ der Staatschef unlängst verlauten. Der wahre Grund ist wohl eher, daß zu einer Verabschiedung auf dem Parlamentswege eine Zweidrittelmehrheit nötig wäre. Und die dürfte nach Lage der Dinge wohl kaum zusammenzubringen sein.
Der ukrainische Justizminister, Sergei Golowati sieht der Entwicklung mit wachsendem Unbehagen entgegen. Sollte nicht bald ein Kompromiß gefunden werden, sei in der Ukraine ein russisches Szenario, wie vom Oktober 1993, nicht ausgeschlossen. „Da standen sich Parlament und Präsident auch in einem offen Krieg gegenüber.“ Barbara Oertel
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