■ Die tschetschenische Bevölkerung kann erst einmal Atem holen. Doch das im Kreml unterzeichnete Waffenstillstands- abkommen könnte sich sehr schnell als brüchig erweisen. Für Boris Jelzin liegt die Kaukasusrepublik immer noch in Rußland
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Die tschetschenische Bevölkerung kann erst einmal Atem holen. Doch das im Kreml unterzeichnete Waffenstillstands-

abkommen könnte sich sehr schnell als brüchig erweisen. Für Boris Jelzin liegt die Kaukasusrepublik immer noch in Rußland

Der Friedensstifter in Siegerpose

Wir müssen zeigen, daß die Republik Tschetschenien in Rußland liegt und nirgendwo sonst“, posaunte Präsident Boris Jelzin auf dem russischen Militärstützpunkt im nordkaukasischen Mosdok. Danach bestieg er einen Hubschrauber, um eine Stippvisite der von seinen Streitkräften verwüsteten Republik zu machen. Auch der Ort Prawobereschnoje im Norden der Hauptstadt Grosny stand auf dem Besuchsplan. Zerstörungen wird der Präsident höchstens aus der Vogelperspektive wahrnehmen, während die Gebiete nördlich Grosnys nie zur Einflußzone der separatistischen Rebellen gehörten. Erhöhte Lebensgefahr für den Präsidenten besteht somit nicht. Zumal der Feldkommandeur Achmed Sakajew, der der Delegation angehört, die in Moskau das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnete, im Falle erfolgreicher Verhandlungen zugesagt hatte, die Sicherheit des Präsidenten zu garantieren.

Wahlkämpfer Boris Jelzin hat an der propagandistischen Front einen Kantersieg davongetragen. Dem noch unentschlossenen Wahlvolk präsentiert er sich als Friedensstifter, seinen skeptischen Landsleuten als Bezwinger des Kaukasus. Denn sein Aufenthalt in Grosny ist kein Kondolenzbesuch, vielmehr eine Siegerparade. Dort rief er seinen Soldaten zu: „Wir haben das verbrecherische Regime Dudajews besiegt.“ Das paßt in jenen Diskurs von Großmachtrhetorik und Festigung russischer „Staatlichkeit“, der das Denken der beiden Hauptkonkurrenten um das Präsidentenamt, Kommunist Sjuganow und Jelzin, durchwirkt.

Schon die Verhandlungen im Kreml offenbarten die Tendenz. Jelzin entsprach nicht dem Wunsch seines Gegenübers Selimchan Jandarbijew, Nachfolger des getöteten kaukasischen Duce Dschochar Dudajew, nach einem Gespräch unter vier Augen. Die Unterhändler gaben sich nach Unterzeichnung nicht einmal die Hand. Das abgesegnete Papier trägt nach Kremlaussagen nur den Charakter „einer Verlautbarung allgemeiner Prinzipien“. Weder von einem formalen Vertrag, einer Erklärung oder einem Protokoll könne die Rede sein.

Während die legitime Führung Tschetscheniens in Moskau um Frieden ringt, reist Triumphator Jelzin durch den Kaukasus. Der Überraschungscoup mag ihm zu Hause einige Pluspunkte einbringen. Doch was soll die Zivilbevöllkerung Tschetscheniens von einem derartigen Frieden halten? Der kaukasische Stolz wurde aufs neue mit Füßen getreten. Es wäre verwunderlich, wenn die Rebellen ihren Chef Jandarbijew nicht zur Verantwortung ziehen. Er hockt im Kreml, und sollte auf der Visite etwas Unvorhergesehenes passieren, würde er nur die Logis wechseln – diesmal als Gefangener. Besonders degoutant: In der Delegation befindet sich auch der Bruder Schamiil Bassajews, des Geiselnehmers von Budjonnowsk, der in Tschetschenien zu einem Volkshelden avancierte.

Die Kaukasier kennen die russische Macht in all ihren Spielarten, die die Knute des Imperiums nie aus der Hand legte. Daher scheint den Rebellen das Wasser bis zum Hals zu stehen. Ihnen fehlt die Kraft, der Militärmaschinerie Rußlands länger Widerstand zu leisten. Nachdem die Armee den letzten strategisch wichtigen Stützpunkt der Rebellen in Bamut letzte Woche nach mehr als einem Jahr Sturmangriff geschleift hat, hat die Widerstandskämpfer der Mut verlassen. Trotz allem hielten sie den Zeitpunkt noch für günstig, um einen vorteilhaften Frieden zu erpokern, der die Tür zu einem unabhängigen Itschkeria nicht ganz zuschlägt. Die Hoffnung schwindet, denn der Kreml hat die Schwäche des Gegners erkannt. Er zeigt sich nicht geneigt, einen erhöhten Preis zu zahlen. Die Armee hat erreicht, was sie wollte. Den blutrünstigen Sieg, der über 30.000 Menschen das Leben kostete. Ihre Wunschliste liegt sicherlich schon fertig in der Schublade. Eines ihrer Anliegen dürfte mit Sicherheit ein Verzicht auf die angekündigte Militärreform sein. Jelzin braucht für den Urnengang am 16. Juni Frieden, doch danach werden die Karten neu gemischt. Die Separatisten können von Glück sagen, wenn Moskau mit ihnen überhaupt noch Gespräche führt, deren Ziel weiterreichende Autonomierechte sein könnten. Klaus-Helge Donath, Moskau