: Vergessen im Niemandsland
■ Farb- und Fallstudie über Arbeitslosigkeit: Wolken ziehen vorüber von Aki Kaurismäki
„Ich bin auf der Reise zum Ende des Wodkas“, sagt eine Figur an einem Punkt der Verzweiflung. Es ist der Ex-Koch. Wie alle anderen Figuren in Wolken ziehen vorüber ist auch er ein Ex, ein Ehemaliger. Ilona (Kati Outinen) war einmal Chefkellnerin im traditionsreichen Restaurant „Dubrovnik“ in Helsinki, bis eine Restaurant-Kette den Laden, „dessen Gäste zu alt wurden, um noch zu trinken“, aufkaufte. Lauri (Kari Väänänen), ihr Mann, war einmal Straßenbahnchauffeur, bis er eine Drei beim Kartenspiel zieht, was seine Entlassung bedeutet.
„Bad news can't wait“, sagt Lauri an einer Stelle. Und es kommt wirklich immer dicker. Er verliert seinen Führerschein und wird verprügelt, die Wohnungseinrichtung, auf Raten gekauft, wird abgeholt. Wegen all dieser Demütigungen wächst ein tiefer Graben zwischen dem Paar, das sich reglos und wortlos gegenübersteht. Sein Selbstbewußtsein wird so sehr zerstört, daß Lauri sich nicht mehr zu Ilona traut und in einer billigen Absteige die Sohlen an seine abgetretenen Latschen klebt.
Diese realistische und zugleich exemplarische Fallstudie über die fatalen Folgen von Arbeitslosigkeit hat Kaurismäki in hochgradig stilisierten Bildern inszeniert. So ist Wolken ziehen vorüber eine stille Farbstudie mit sich kreuzenden colorierten Flächen geworden. Die ersten Bilder noch Variationen in Grün, eher an ein vergessenes Niemandsland irgendwo im Ostblock statt an Finnland erinnernd, werden abgelöst von einem immer dunkleren Blau – als wenn die Wolken über einer Landschaft aufziehen. Immer mehr Rottöne kommentieren schließlich das Unheil, das in einer Nahaufnahme auf Lauris blutiger Hand einen vorläufigen Höhepunkt findet.
In Wolken ziehen vorüber ziehen dunkle Wolken auf über der Mittelschicht, die sich, selbst als Doppelverdiener, ihres Lebensstandards nicht mehr sicher sein kann. Wie in den 20er Jahren die Straßenfilme, nach Karl Grunes Die Straße (1923) benannt, inszeniert Aki Kaurismäki Mitte der 90er Jahre die Angst der Mittelklasse vor dem sozialen Abstieg. Und wie in den Filmen nach der Weltwirtschaftskrise fällt auch heuer die Welt in eine bedrohliche Stadt und einen tröstenden Partner auseinander, wenn sich Ilona und Lauri wieder zusammenraufen.
So gelingt Kaurismäki ein ernster, tief-trauriger Film über Rezession und Arbeitslosigkeit, der die Forderung nach einer lebensweltlichen Anbindung des Kinos ernst nimmt, ohne einem planen Dokumentarismus zu erliegen. Wenn am Ende das Dunkel weicht und die Kamera für einmal im hellen Licht nach oben steigt, verweist der finnische Regisseur darauf, daß die Wolken allenfalls im Kino vorüberziehen.
Als Vorfilm zu Wolken ziehen vorüber zeigt das Abaton den Kurzfilm Immer Geradeaus des Hamburger Jungfilmers Thorsten Kirves. Sehr auf Professionalität bedacht, hat dieser sich mit Peter J. Krause einen Hollywood-erfahrenen Kameramann besorgt. Ordentlich getimt, mit klugen Bildausschnitten, wird die Geschichte einer spontanen Entführung erzählt. Doch alles mißlingt gründlich.
Volker Marquardt
Abaton
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