: Mehr als eine Ausdrucksübung
Zu den Kindern habe sich „der Russe“ auffallend „zutraulich“ verhalten – ein Band mit Aufsätzen von Schülern vom Prenzlauer Berg aus dem Jahr 1946, etwa über den „Kampf um Berlin“ ■ Von Peter Walther
Ein beklemmend plastisches Bild vom Alltag der letzten Kriegsmonate liefert eine Sammlung von Aufsätzen, die Schüler aus 47 Schulen des Stadtbezirks Prenzlauer Berg 1946 über ihre Kriegserlebnisse und die unmittelbare Nachkriegszeit geschrieben haben. Annett Gröschner hat eine Auswahl dieser Aufsätze, die über 50 Jahre lang im Archiv lagen, zusammen mit zeitgenössischen Fotos unter dem Titel „Ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab“ zusammengestellt.
Um es vorweg zu sagen: Das Buch ist nicht nur von Anfang bis Ende spannend zu lesen, sondern – als authentisches Zeugnis von Zusammenbruch und Neubeginn – von zeit- und mentalitätsgeschichtlichem Wert über das Beispiel Berlin hinaus.
„Der Beschuß“ heißt ein kurzer Aufsatz von Wilma D. aus der 6. Klasse der 41. Volksschule: „Ich bin nie aus dem Keller rausgekommen, nur meine Mutti und mein Opa sorgten für das Essen. Am 28. April 1945 fiel auf unseren Hof eine Granate. Meine Mutter stand mit sieben Frauen auf dem Hof, als die Granate einschlug. Meiner Mutti wurden die Beine abgerissen. Meine liebe Mutti wurde am 30. April 1945 beerdigt. Das war mein Erlebnis während des Beschusses.“ Was den Schülern mit diesen Aufsätzen abverlangt wurde, war mehr als eine Ausdrucksübung. Es ging um den Versuch, die gerade einmal ein paar Monate zurückliegenden Erlebnisse zu bewältigen, wie Annett Gröschner im Vorwort schreibt.
Die Entstehungsgeschichte der Aufsätze läßt sich nicht mehr bis ins Letzte erhellen. Sicher ist jedoch, daß sämtliche Schulen des Stadtbezirks vom Schulamt den Auftrag erhielten, zu bestimmten Themen im Deutschunterricht Aufsätze schreiben zu lassen. Aus der Zeit von Januar bis Mai 1946 sind 1.358 Aufsätze überliefert, in denen Schüler – und in wenigen Fällen auch Erwachsene – Krieg und Nachkriegszeit reflektieren. Im vorliegenden Band sind die Arbeiten nach vier Themengruppen geordnet: „Bombenangriffe“, „Kampf um Berlin“, „Der Krieg ist vorüber“ und „Ein Jahr Wiederaufbau“. Ein weiteres Kapitel ist Gesprächen mit ehemaligen Schülerinnen gewidmet, die die Verfasserin in den letzten Jahren führte.
Viele Beschreibungen des Alltags im Krieg gleichen sich: Beim Luftangriff setzt die Vorwarnung ein, der Drahtfunk wird abgehört, Sirenen heulen, vorsorglich werden Wassereimer zum Löschen auf die Flure gestellt. Im Keller wartet die Hausgemeinschaft und hofft, daß ihr Haus verschont würde, daß die Ausgänge frei bleiben und das Wasser nicht steigen würde. Entwarnung, dann die Angst vor Blindgängern und einstürzenden Häuserwänden.
Keine Erfindung wäre dramatischer
Die Bilder von Tod und Zerstörung wirken deshalb so eindrucksvoll, weil den Kindern oft jeglicher Abstand zum Erlebten fehlt. Hier muß nichts dramatisiert werden. Was die Wirklichkeit hervorgebracht hatte, konnte auch die schwärzeste Phantasie nicht übertreiben. Erschütternd ist besonders der knappe, buchhalterische Ton der Kinder, in dem die ungeheuerlichsten Erlebnisse berichtet werden. Horst S. aus der 3. Volksschule schreibt über den Bombenangriff vom 3. Februar 1945, einem der schwersten Angriffe auf die Innenstadt: „Ein alter Mann versuchte auch noch, sich aus seiner Wohnung was herauszuholen. Als er in der Wohnung war, versperrten Flammen ihm den Ausgang. Nun lief er nach dem Balkon. Aber da seine Wohnung im 3. Stockwerk war, so konnte er von dem Balkon nicht herunter springen. So mußte der Mann am lebendigen Leibe verbrennen.“
Auch die Aufsätze über die Tage des Zusammenbruchs ähneln sich in der Beschreibung der äußeren Vorgänge. Aus Furcht vor den Russen und vor den fanatisierten SS-Truppen hielt sich die Bevölkerung oft tagelang in den Kellern auf. Zu den perfidesten Verbrechen der Nazis am eigenen Volk gehörte die Meldung im Völkischen Beobachter vom 20. April 1945, daß am nächsten Tag ein Übungsschießen der Flak stattfinden würde. In Wirklichkeit setzte am 21. 4. der Sturm der Roten Armee auf Berlin ein. Die Sorglosigkeit, mit der viele Berliner das vermeintliche Übungsschießen ignoriert haben, hat viele das Leben gekostet. Die erste Begegnung mit den Russen wird von den meisten Schülern als Befreiung erlebt. Zwar werden Diebstähle und Vergewaltigungen der Besatzer registriert, zu den Kindern verhält sich „der Russe“ jedoch „zutraulich“, wie es in einem Aufsatz heißt.
Versatzstücke von Nazi-Sprache
Nicht nur hier wirkt das Propagandabild der Nazis in der Sprache nach, auch wenn von den „Terrormächten“ die Rede ist oder Sätze vorkommen, die aus einem Carossa-Roman abgeschrieben sein könnten: „Eisiger Schrecken bemächtigte sich meiner... Nur ein Gedanke hämmerte in meinem Hirn“ usw. Das alles muß nicht verwundern, hatten doch die 10- bis 16jährigen Schüler in ihrem bewußten Leben seither nichts anderes erlebt als das Dritte Reich.
In den Aufsätzen zum Thema „Wiederaufbau“ fehlt oft die Unmittelbarkeit im Ausdruck. Da es sich um Hausarbeiten handelte, haben wohl oft die Eltern oder die Geschwister mitgeholfen. Dennoch: Auch dies sind Zeitzeugnisse.
Die vorliegende Anthologie von Schüleraufsätzen ist das Ergebnis akribischer Recherche und zugleich ein Muster an editorischer Sorgfalt. Das Buch enthält neben zahlreichen zeitgenössischen Fotos ein Register, einen Stadtplan, lokalgeschichtliche Anmerkungen zum laufenden Text und instruktive Einführungen in jedes Kapitel. Es ist in graue Pappe eingebunden und muß vom Leser selbst aufgeschnitten werden. In Inhalt und Gestalt gleichermaßen begeisternd.
„Ich schlug meiner Mutter die brennenden Funken ab. Berliner Schüleraufsätze aus dem Jahr 1946“, hrsg. vom Prenzlauer Berg Museum, ausgewählt von Annett Gröschner, Kontext Verlag, 376 Seiten, 40 DM.
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