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Die Zensur ist global

■ Helsinki-Menschenrechtsorganisation fordert völkerrechtliche Garantien für Meinungsfreiheit im Internet

Die bayerischen Staatsanwälte, die den Onlinedienst CompuServe besuchten, hatten kein Gesetz in der Hand, auf das sie sich berufen konnten. Völlig willkürlich handelten sie dennoch nicht. Sie bauten nicht nur auf das stille Einverständnis der Bayrischen Staatskanzlei, sie durften sich auch im Einklang fühlen mit den Regierungen der Welt. Über alle politischen Differenzen hinweg eint sie der gemeinsame Wunsch, das Internet ihrer Kontrolle zu unterstellen.

Die in Washington und New York ansässige Organisation „Human Rights Watch“ hat jetzt ein Dossier veröffentlicht, das zum erstenmal die weltweiten Bestrebungen dieser Art zusammenstellt. Der Bericht beansprucht keine Vollständigkeit, Gewicht besitzt er vor allem, weil er allgemeinere Strukturen erkennbar macht. Er wendet sich an die Regierungen der G7-Gruppe der reichsten Länder. Nur auf sie trifft ja heute noch zu, was die Menschenrechtswächter optimistischerweise in ihren Text schrieben, nämlich, daß das Internet das „erste wirkliche Massenmedium“ der Geschichte sei.

Die Autoren, die im Internet unter der etwas altertümlichen Adresse gopher.humanright.org :5000 erreichbar sind, denken vor allem an die oft beschworene Chance, mit relativ geringen Mitteln ein beliebig großes Publikum erreichen zu können. Gerade dieses demokratische Potential sei inzwischen gefährdet. Die Organisation, die 1978 im Anschluß an die Helsinki-Konferenz gegründet wurde, will sich nicht mit Kleinigkeiten aufhalten. Sie schlägt deshalb vor, zwei Prinzipien gleich in das Völkerrecht aufzunehmen, Grundsätze, die zwar nicht neu sind, deren Beachtung jedoch in einer digitalen Informationsgesellschaft unerläßlich sei. Erstens solle, heiß es im Dossier, jede Vorauszensur „ausdrücklich“ verboten sein. Gemeint ist, daß keine Behörde darüber befinden darf, ob sie eine vorerst nur geplante Publikation im Internet zulassen will oder nicht. Zweitens, und deutlicher auf die Bedingungen des Cyberspace zugeschnitten, sollen ebenso Behinderungen der Rede- und Meinungsfreiheit mit „indirekten Mitteln“ verboten sein. Darunter sei vor allem der „Mißbrauch“ der Kontrolle über technische Anlagen oder Sendefrequenzen zu verstehen, die der Datenübertragung dienen.

Staatliche Post- und Telefonmonopole geben den jeweiligen Regierungen in allen politischen Systemen Mittel in die Hand, die sie zu nutzen wissen. Wo sie fehlen, werden spezielle Gesetze für den Datenverkehr vorbereitet. Stets haben die Regierungen ein doppeltes Problem zu lösen. Einerseits vermuten sie im Internet wirtschaftliche Vorteile, die sie ihren Ländern zukommen lassen möchten. Anderseits wollen sie selbst entscheiden, wer das neue Medium nutzen darf. In der Volksrepublik China zum Beispiel können seit letztem Jahr auch private Unternehmen Internetzugänge anbieten. Doch der Telekommunikationsminister in Peking stellt ohne Umschweife fest: „Wenn wir uns ans Internet anschließen, meinen wir damit nicht, daß wir absolute Informationsfreiheit einführen wollen.“

Was Human Rights Watch weiter in Erfahrung gebracht hat, zeigt jedoch, daß selbst unter diesen politischen Vorzeichen das Internet nur schwer zu kontrollieren ist. Chinesische Netzrechner dürfen die Usenet-Gruppen der Kategorien „alt.“ (alternative“), „soc.“ (social“) und „rec.“ (recreation“) nicht selbst anbieten. Newsgroups, die sich mit Computern und Wissenschaft befassen (comp.“ und „sci.“), sind dagegen erlaubt. Selbstverständlich kann eine solche Maßregel alleine noch niemanden daran hindern, die verbotenen Gebiete zu betreten. Das Internet ist in dieser Hinsicht nicht teilbar, weswegen die chinesische Regierung im Februar die Notbremse zog. Sie verlangte von allen Privatprovidern, daß sie ihre bereits aufgebauten Netzwerke auflösen und sich neu beim Postministerium registrieren lassen. Sie dürfen seither nur noch Leitungen anbieten, die ihnen die für Post, Telekommunikation und elektronische Industrie zuständigen Ministerien, die staatliche Erziehungskommission oder die chinesische Akademie der Wissenschaften zuteilen.

Zur Zeit dieses Erlasses hatten nach offiziellen Schätzungen über 7.000 private Anschlüsse etwa 70.000 Menschen in China das Internet kennengelernt. Der Zugriff der Regierung dürfte das wachsende Interesse kaum gebremst haben. Inzwischen, berichtet Human Rights Watch, blüht ein schwarzer Markt für Internetzugänge. Er wird genährt vom kommerziellen Interesse der Sonderwirtschaftszonen und sorgt von selbst für eine soziale Abschottung des Netzes. Die Preise seien sogar für Reiche schier unerschwinglich geworden, meint Human Rights Watch, und die chinesische Regierung beteiligt sich munter selbst am Geschäft – zumindest vor der Haustär: In Hongkong betreibt die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua nebenher die „China Internet Corporation“ (CIC), einen kommerziellen Dienst für Geschäftsleute mit Verbindungen in die Volksrepublik.

Anstößiges, wie es die Bayern überall witterten, ist von dieser Adresse nicht zu erwarten. Doch für Human Rights Watch ist der Schutz vor Pornographie ohnehin kaum mehr als ein Vorwand für weitergehende Kontrollwünsche der Regierungen. Bedrohlicher als die Zensur bestimmter, je nach Landeskultur tatsächlich sehr unterschiedlich zu bewertender Inhalte, findet die Organisation die weltweit zunehmenden Versuche, die elektronische Privatsphäre auszuleuchten. Treuherzig versichert etwa der Vorsitzende der CIC in Hongkong, der E-Mail-Verkehr seiner Kunden werde auch im chinesischen Hinterland weder bewacht noch gestört – es sei denn, er verstoße „gegen die Gesetze“.

Nun ist Human Rights Watch gewiß eine an westlichen Maßstäben orientierte Organisation. In China wird sie kaum Verständnis finden, wenn sie die Erlaubnis fordert, Nachrichten im Internet „ohne Einschränkung“ verschlüsseln zu dürfen. Auch die Geheimdienste anderer Staaten wollen Privatpersonen diesen Selbstschutz nicht gestatten. Und selbst das Recht, bereits gesammelte, persönliche Daten einsehen und notfalls richtigstellen zu können, dürfte kaum eine Regierung dieser Welt in dem Maße einräumen wollen, in dem es Human Rights Watch einklagt. Der Bericht zeigt vielmehr, mit welcher Selbstverständlichkeit sich auch westliche Staaten den Hinweis des chinesischen Internetproviders auf geltende Gesetze zu eigen machen. Jener Cyberspace, den sie ihrer Bevölkerung nur mit Einschränkungen öffnen wollen, soll ihnen selbst völlig frei zur Verfügung stehen für Ermittlungen aller Art. Wie anders als durch offene Verletzung des Briefgeheimnisses könnten Beamte denn herausfinden, ob eine elektronische Botschaft geltenden Gesetzen eines Staates widerspricht? Beamte des Regimes von Singapur haben schon 1994 private Internetprovider gefilzt, um festzustellen, ob bestimmte Personen Materialien auf ihre Rechner geholt haben, die in Singapur als „explizit sexuell“, damit als strafbar gelten.

Eine asiatische Spezialität sind solche Begriffe keineswegs. Wäre der US-amerikanische „Communication Decency Act“ schon in Kraft – ein Bundesgericht hat die Anwendung des Gesetzes vorerst aufgeschoben –, müßten amerikanische Behörden ebenso verfahren. Sie müßten ermitteln, ob ein einzelner Kunde eines Providers unanständige Dinge aus dem Netz geholt und damit verbotenerweise auch Kindern zugänglich gemacht hat. Die Provider wären verpflichtet, der Polizei Einblick in die einschlägigen Daten zu gewähren. In Bahrain und Kuwait, wo der Anschluß ans Internet erst noch vorbereitet wird, erklären nach den Recherchen von Human Rights Watch Regierungsmitglieder, daß sie weder sexuelles noch politisch subversives Material zulassen wollen. In Jordanien wurde vom US- Provider „Globe Net“ die Einrichtung eines speziellen Softwaresystems verlangt, das den Behörden jederzeit die Überwachung des Internetverkehrs erlaubt. Offizielle Begründung: Schutz vor Pornographie. In Abu Dhabi wurde ein Internetclub gezwungen, nicht nur Sex und Politik, sondern auch gleich noch alle Religion von seinen Rechnern zu verbannen.

Weit vorn auf dieser Rangliste steht Deutschland mit seinem inzwischen berühmten Fall der von CompuServe gesperrten Newsgroups. Mit Erstaunen vermerkt Human Rights Watch, daß Bayerns Justizminister nicht mit der Kinderschutzsoftware zufrieden ist, die der Onlinedienst heute Kunden anbietet. Nicht Computerprogramme sollen die Rechner zensieren, fordert die bayerische Regierung, sondern CompuServe selbst sei weiterhin verpflichtet, illegales Material „deutschen Bürgern“ in keiner Weise zur Verfügung zu stellen.

Eine der Sache wenig angemessene Reaktion, die so überraschend nun aber auch nicht sei, meinen die Menschenrechtler und verweisen auf eine päpstliche Bulle aus dem Jahr 1558, die kurz nach der Erfindung des Buchdrucks 500 Titel des damals neuen Mediums verbot. Die Mönche haben trotzdem weitergelesen. Niklaus Hablützel

(niklaus@taz.de)

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