: Wachstumsbranche Jazz
25 Jahre Moers Festival: Trotz Sparzwang eine Dauerperformance ohne Verfallsdatum. Durchschnittsmoerser wurden gesichtet! ■ Von Andreas Becker
Fast wäre die Geburtstagsparty zum Totentanz geworden. Im Moerser Freibad „Solimär“ hat man unlängst den Stöpsel aus dem Mehrzweckbecken gezogen, da sah SPD-Stadtrat Rudolf Apostel zum zweitenmal seit 1981 – damals hatte man ihn kopfschüttelnd aus einem Ronald-Shannon-Jackson- Konzert laufen sehen – die Chance, Ruhe und Ordnung herzustellen und damit auch noch Geld zu sparen. Das 25. Moers Festival wäre dann das letzte gewesen.
Erst durch eine von den Grünen anberaumte Sondersitzung, einen Tag vor Festivalbeginn am Pfingstwochenende, wurde der Bestand des Festivals bis zum Jahr 2000 gesichert. Der künstlerische Leiter Burghard Hennen, im Programmheft überraschenderweise als junger Jazzrebell mit Vollbart abgebildet (1975), hatte gedroht, seinen Musikzirkus notfalls in eine andere Stadt zu verlegen.
Ziemlich viel Aufregung um ein Festival, das sich zwar rühmen kann, in Deutschland wie kein anderes internationale musikalische „Avantgarde“ präsentiert und gefördert zu haben, das aber – Anspruch hin oder her – längst zu einem niederrheinischen Volksfest geworden ist. Wenn die Hippies in den Moerser Stadtpark einfallen – gar nicht mal unbedingt, um in die Konzerte zu gehen, sondern einfach, um mal wieder nachts vorm Zelt mit Gleichgesinnten die Bongos zu betrommeln –, dann heißt es für den ganz normalen Biker aus Oberhausen, den Pfingstspaziergang nach Moers verlegen und hier das erste mittägliche „Pilsken fassen“. Oder einen „Seoul Burger“ aus „Feuerfleisch“. Zehntausende drängeln sich zwischen Zelten und Verkaufsständen und mischen sich unter die angereisten Freaks, als wäre Woodstock eine alljährlich wiederkehrende, begehbare Dauerperformance ohne Verfallsdatum.
Den Untertitel „New Jazz Festival“ hat man stillschweigend irgendwann dem Pragmatismus geopfert. Hennen betont denn auch gern, es ginge ihm nicht um Jazz, sondern um gute Musik: „Moers ist seit über zehn Jahren kein klassisches Jazzfestival mehr. Ich will Verbindungen zu Weltmusiken aufzeigen, die einen immer intensiveren Einfluß auf die Improvisationsmusik ausüben.“ Der Moers- Mythos sei vor allem durch die Besucher geschaffen worden. Und die versuchen Hennen und sein Kollege Dr. Ulrich Kurth vom geldspendenden und aus Moers dauersendenden WDR („Mehr Hören. Mehr Sehen.“) unter anderem mit Musiken anzulocken, die auch vom irgendwie sehr sympathischen Durchschnittsmoerser kaum noch als „Free Jazz“ tituliert werden könnten. Darunter in diesem Jahr der ehemalige James-Brown-Sideman Maceo Parker. Dessen perfekt durchinszenierte Schmusefunk-Show lockte am Samstag abend 5.000 Fans in das sechsmastige Großzirkuszelt, in dem die Konzerte inzwischen stattfinden.
Noch zuschauerträchtiger ist die seit zehn Jahren stattfindende „African Dance Night“ in der häßlichen sozialdemokratischen Moerser Eishalle (neben dem Freibad). „Ausverkauft“, hieß es am Infotresen vorm Festzelt, der gleichzeitig eine umfassende, durch Broschüren theoretisch untermauerte „Müllberatung“ andient. Im Heftchen zur Historie von 25 Jahren Moers heißt es unter 1992: „Die Stadt, der WDR und das Landesministerium für Umwelt sorgten mit ihrem ökokulturellen Gesamtkonzept erneut für positive Begleittöne. Abfallberater standen Rede und Antwort.“
Schade, mit denen hätte man gern auch zum 25. Geburtstag geplaudert, aber sie wurden im Zuge der moralischen Gelbtonnisierung Deutschlands eingespart. Vor zwei Jahren habe er das Festival besser gefunden, sagt denn auch ein Energiebällchenhersteller. Nicht wegen der Bands, nein, wegen des Müllkonzepts. Seine Freundin malt derweil in ihrem Bielefelder Wohnmobil-Hanomag Verkaufsschildchen: Sorgsam kritzelt sie Blümchen und Kringel auf eine Pappe.
Das eigentliche Konzept von Hennen (Hennen Alt nennen ihn altgediente Moersjazzhasen im Pressezelt wegen des Sponsors, der uns in Gestalt wirklich netter rheinländischer Mädkens Abend für Abend abfüllt) ist Integration. Nachts vorm Igluzelt hören die Kids Rage Against The Machine, nachmittags gehen sie zum Konzert der archaisch-japanischen Trommler Cohan. Erfolgreich zieht sich Jazzpädagoge (wie man früher sagte) Hennen junges Publikum heran. Stilvielfalt, die in manchem Jahr in programmatische Beliebigkeit ausuferte. Stimmungskanonen wie im letzten Jahr Herbie Hancock fungieren als Appetizer für heftigere Kost. Auch wer nicht morgens zu den „Projekten“ ging, bei denen frei improvisiert wurde, hörte Gruppen wie die Ned Rothenberg Double Band, die in New Yorker Abgeklärtheit mit zwei Schlagzeugern, zwei Saxophonisten und zwei Bassisten alles doppelt heimzahlen.
Heftig rotieren die Signifikanten auch beim japanischen Trio Fedayien. Ein Elvis-Imitator, der vorher draußen an einem Batikhosenstand die Hüften schwang, schummelt sich posend in die Show. Nach ihm strippt ein Japaner zur Musik, den man in seinen Geishaklamotten noch für eine Frau hielt. Jazz means Verwirrung stiften. Vom „signifying monkey“ berichtet der Last Poet Jalal am nächsten Tag einem Frager: „Bevor ich schreiben konnte, konnte ich rappen.“
World-Saxophonist David Murray, Dauergast in Moers seit seinen No-Wave-Zeiten Anfang der Achtziger, versucht den Jazzbegriff durch eine Hinwendung zu „seinen“ Roots zu erweitern. Zunächst bemüht sich sein Projekt „New York – Paris – Dakar“ mit Rappern und Trommlern allzu verkrampft um die Herbeizitierung afrikanischer Wurzeln. Gleich nach dem Moerser Konzert spielt Murray mit der Band in Dakar: „Musik ist die einzige Kommunikationsform, durch die ich Teil des afrikanischen Lebens sein kann.“ Seine Sehnsucht nach Afrika spiegelt eine (für mich) bizarre Facette der Diskussionen der Black Community in den USA: „Es ist die Frage, wo mein Platz in Afrika ist.“
Auch Jazz schafft Arbeitsplätze. Und so kann Hennen in Dieter- Gorny-Manier damit argumentieren, Kultur- und Medienwesen sei neben Chemie und Maschinenbau die wichtigste Wachstumsbranche NRWs. Der Stadtrat stimmte schlußendlich einstimmig für den Erhalt des Festivals. So richtig provozieren kann die Moers-Musik scheinbar nur noch Altnazis. Johannes Kleifeld, Rechtsanwalt, „Anwohner“ und Ex-NPD-Vorsitzender, im Programmheft mit einem zweiseitigen Protestschreiben vertreten, darf sich auch in Zukunft jährlich einmal ins „finsterste Afrika zurückversetzt fühlen“.
Statt Totenstille im Stadtpark erlebte man ein Festival, das Funken schlug. Jubel bei Musikern, die ihre Arbeitsplätze in Gefahr sahen (und auch beim Publikum), als Hennen beim montäglichen Abschlußkonzert der David Murray Bigband seine Vertragsverlängerung verkündet.
Wie hungrige junge Hunde, die einem Knochen nachjagen, trompeten daraufhin Murrays Mannen, allesamt Nachwuchsmusiker, mit denen er an normalen Montagen in der New Yorker Knitting Factory auftritt. Nicht nur diese Band spielte, als ginge es um ihr persönliches Überleben. Nach Meinung vieler das Beste Moers Festival seit langem. Manchmal bewirkt ein Damoklesschwert über dem Kopf eben auch Gutes.
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