Zu Hause, vorm Haus, aus dem Häuschen

■ Theater in Hamburg: Jugendtheater, auch für Erwachsene, mit „Moeder & Kind“ auf Kampnagel, theatralische Denkmalpflege in Altona und Eröffnung des 10. Kabarettfestivals mit Matthias Deutschmann und Festreden

Moeder & Kind

Dies ist eine Familie, die man manchem für seine Kindheit gewünscht hätte: laut, direkt, crazy. Der große Sohn rockt zu dEUS ab, der folgende zieht sich Perücke und Glitzerkleid an und imitiert Michael Jackson oder Right Said Fred, das kleinste Mädchen freut sich an jedem Scheiß, und Mama und Papa sind hart, aber herzlich. Auch der Gast, der von der selbstverständlichen Verwilderung erst einmal befremdet wird, versteht schnell, daß sich ihm hier Freiräume bieten, er selbst zu sein.

Nur das schwarze Kaninchen tut einem ein wenig leid. Doch scheinbar ist es längst an ohrenbetäubende Musik und tanzende Menschen auf dem Dach seines Käfigs gewöhnt, denn wirklich beeindruckt zeigt es sich nicht.

Vielleicht reagiert die Evolution ja doch schneller, als die Wissenschaft meint. Dann wäre es auch interessant zu beobachten, was mit dem fröhlich-tobenden Menschen wird, der uns hier in einer gemütlichen Sperrmüll-Architektur vorgeführt wird. Denn diese Spezies muß ihren Überlebenskampf im euphorischen Sprung vom Küchenschrank in den Wohnzimmersessel oder beim Rockstar-Imitieren auf der schleudernden Waschmaschine durchstehen. Das erfordert bestimmt ganz neue Nerven, Sehnen und Muskeln für die Zukunft dieser Menschheit.

Moeder & Kind, in Szene gesetzt von den beiden Belgiern Alain Platel und Arne Sierens, der eine Choreograf, der andere Autor, verzichtet auf eine ausführliche Geschichte und zeichnet einfach liebevoll das Bild einer Prollfamilie, deren größter Lebensinhalt die Musik ist. Alltag von seiner schönsten Seite, wild, aber nicht feindlich, warm statt bedeutend, vermittelt Freude und Unterhaltung aus der sympathischen Beobachtung einer anderen Welt.

Inspirieren ließen sich Platel und Sierens von Nick Wapletons Fotoband Living Room, in dem er mit einer intimen Kamera in Familien der englischen Arbeiterklasse eindrang und versuchte, das Bild vom prügelnden Blockhead, der staubsaugenden Mami im grellfarbigen Plüschambiente und dem Brutkasten für Hooliganism zu brechen.

Leider konnte diese charmante Produktion, die sowohl Jugendtheater sein kann wie Erwachsene amüsieren will, nur zwei Tage auf Kampnagel gastieren. Eine Wiedereinladung ist dringend zu empfehlen. Till Briegleb

Wohlers Allee 58

Viele Stuhlreihen versperrten in der beschaulichen Altonaer Wohlers Allee dem Vierrad den Weg, und erfreulicherweise waren sie dicht bepackt mit Menschen. Menschen, die gekommen waren, um eine Form der Denkmalpflege zu beobachten, die es leider viel zu selten gibt: Das theatralische Wiederbeleben von Orten. Das Kinderhaus Sternipark hatte nach dem Kauf des Hauses Nr. 58 für die Erweiterung seiner Kinderarbeit festgestellt, daß die zweigeschossige Stadtvilla einst ein jüdisches Volksheim beherbergt hatte, in dem auch ein Kindergarten gewesen ist. Nach intensiver Recherche, bei der man auch auf Mirjam Gillis-Carlebach, die Tochter des von den Nazis ermordeten Hamburger Oberrabiners Joseph Carlebach, gestoßen war, die hier den Kindergarten besucht hatte, entwickelte der Hamburger Filmemacher Jens Huckeriede das multimediale Projekt.

In Anwesenheit der Rabbiner-Tochter, die über ihre Kindheit in Hamburg auch ein Buch verfaßt hat, Jedes Kind ist mein einziges (Dölling & Galitz), wurde die Performance am Freitag aufgeführt. Briefe von Menschen, die hier einen Teil ihrer Kindheit verbracht haben, bevor sie vor dem deutschen Faschismus ins Ausland fliehen mußten, Auszüge aus Peter Weiss' Die Ermittlung oder das Gedicht „Der jüdische Friedhof“ von Garcia Lorca wurde von „Schattenrissen“ hinter den Fenstern vorgetragen, Dias und Videos, die von innen und außen an das Haus geworfen wurden zeigten historische Bilder oder ein Interview mit Gillis-Carlebach. Dazwischen spielten zwei Schatten Klezmer oder „deutsche“ Volkslieder, wie „An der Eck steid'n Jung...“, die von Juden komponiert wurden. Letzteres Lied war bereits einmal Anlaß zu einer Kunstaktion in Altona. Die Performance, bei der der Text fortlaufend aufs Pflaster geschrieben wurde, wurde hier ebenfalls dokumentiert.

Diese Art der Collage erlaubt es, sowohl assoziative wie historische Zusammenhänge wachzurufen und wäre als regelmäßige Veranstaltung für viele Häuser in Hamburg wünschenswert, die ihre Vergangenheit hinter einer stummen Fassade verbergen. Denn viele Orte des ehemals jüdischen Lebens existieren noch. Es weiß nur keiner.

Till Briegleb

Matthias Deutschmann

Zehn Jahre Kabarettfestival auf Kampnagel, zehn Jahre deutsches Kabarett, zehn Jahre mehr als genug Anlaß zur Satire. Also, dachten sich die Kampnagelschen Veranstalter des Jubiläumsfestivals, sei es nun an der Zeit, Rückschau zu halten und nachzudenken über das, was war und was kommen mag. In ihrer Eröffnungsrede am vergangenen Samstag räsonnierten Res Bosshart, künstlerischer Leiter der Kulturfabrik, und Ullrich Waller, Kammerspiele-Intendant und Programmchef des Festivals, denn auch ausgiebig darüber, was Kabarett nötig und was Kabarett mit uns macht. All die Stars, die in zehn Jahren aus der Kampnagel-Wiege auferstanden sind, und die drohende Übermacht der Comedy durften in der knapp halbstündigen Ansprache natürlich auch nicht fehlen.

Matthias Deutschmann aber liegt es zum Glück überhaupt nicht, innezuhalten und rückzuschauen, sei es in Zorn, Ehrfurcht oder Erhabenheit. So bedankte er sich freundlich für „Ullis Warming Up“ und zeigte gut zwei Stunden lang, daß Rückschau in feinster Kabarett-Manier klug hinterfragen und trotzdem Spaß machen kann.

Schon als der Kabarettist auf die Bühne kam, freuten sich die 800 Besucher lautstark, was überhaupt nichts mit dem Rüdiger Hoffmann-Phänomen zu tun hat, sondern einfach an Deutschmanns putziger, sympathischer Art liegt. Begleitet von präzisen und pointierenden Cello-Tönen präsentierte er dann die Highlights aus den letzten zehn Jahren seiner Kabarett-Karriere, ohne eigene Fehler und Mißgeschicke zu unterschlagen.

So gab er eine lebhafte Vorstellung davon, wie er – ein knappes Jahr vorher ahnungslos von Freiburg nach Berlin umgezogen – am 10. November 1989 bei dem Versuch scheitern mußte, einen aktuellen Abend auf einer Berliner Bühne zu gestalten. Zum Thema Comedy fällt Deutschmann die Freiburger Frauengruppe Böse Möse ein, die allerdings niemals aufgetreten sei. Und danach ist es für ihn nur noch ein kleiner Schritt zu Alice Schwarzer und der Feststellung, daß wir ohnehin alle irgendwann in einem Ratespiel sitzen werden.

Nachdem er dann noch über das „vorsichtige Flugverbot der UNO für serbische Panzer“ und ähnliche Feinheiten der jüngeren internationalen Geschichte gesprochen hatte, war es ihm der Rückschau genug. Also knöpfte er sich Wolf Biermann und „Doktor Dieter Arschloch Dehm – immer schön in Biermannscher Diktion“ vor und hatte noch einmal seinen Spaß an Ulrich Wickert, der wahrscheinlich demnächst eine „revidierte Fassung des Neuen Testaments in Tchibos kritischer Reihe“ herausgegeben wird.

Wie gewohnt war auch dieser Auftritt von Matthias Deutschmann ein Geschenk für das Hamburger Publikum. Für die Eröffnung des Jubiläums-Festivals eine hervorragende Wahl – und neben einem gelungenen Rückblick vor allem ein würdiger Auftakt zu weiteren zehn Jahren Kabarett.

Nele-Marie Brüdgam