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Die Nordatlantische Allianz stempelt Rußland zum „bösen Buben“ ab

■ Trotz aller Kritik an der Osterweiterung der Nato hat sich in Moskau aber die Erkenntnis durchgesetzt, daß diese nicht mehr aufzuhalten ist. Dem Kreml geht es jetzt vor allem darum, im Gegenzug einen möglichst hohen Preis dafür herauszuschlagen

Berlin (taz) – Kurz vor Beginn der Nato-Frühjahrstagung in Berlin legte der russische Präsident Boris Jelzin noch einmal nach: Die Nato wolle von Änderungen in der internationalen Ordnung profitieren, um ihre Militärmaschine nach Osten auszudehnen. Außerdem versuchten die westlichen Staaten, ihre Führerschaft in der Welt zu verstärken, polterte er. Damit brachte Jelzin zum wiederholten Male die russische Position zu Plänen der Osterweiterung des Nordatlantischen Bündnisses auf den Punkt: Njet!

In Rußland wird am 16. Juni ein neuer Präsident gewählt. Daher ist es nicht verwunderlich, daß sich auch Jelzin als vehementer Verfechter der russischen nationalen Interessen geriert. Doch die Osterweiterung ist in Rußland seit geraumer Zeit ein Reizthema.

Angefangen hatten die Auseinandersetzungen in Rußland spätestens Ende 1994, als klar wurde, daß nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie der Osterweiterung ging. Da waren die Hoffnungen Moskaus auf eine gleichberechtigte Zusammenarbeit mit dem Westen schon längst der Ernüchterung gewichen.

So ist denn auch die klassische Frage der russischen Geistesgeschichte „Kto winowat, wer hat schuld?“ mittlerweile über alle Parteigrenzen hinweg eindeutig beantwortet. Der Westen beziehungsweise die Allianz, die trotz einer veränderten geostrategischen Struktur in Europa ihr Bündnis aufrechterhält und jetzt sogar noch auf die Staaten Mitteleuropas ausdehnen will. Rußland fühlt sich bedroht.

„Was umgibt Rußland? Vom Süden stemmt sich uns die instabile muslimische Welt entgegen, die um so gefährlicher ist, als ein Teil von ihr in Rußland selbst liegt. Vom fernen Osten her bedroht uns China, das seine wirtschaftlichen und militärischen Muskeln spielen läßt. Außer China können auch noch Japan und Korea gefährlich werden. Das dritte geopolitische Schreckgespenst sind die Länder der Nato. Der römische Schlachtruf ,Hannibal ante portas‘ erklingt fast jeden Tag in den russischen Massenmedien in der Variante: Die Nato erweitert sich nach Osten“, schrieb Alexander Lebed unlängst in der russischen Tageszeitung Nesavissimaja Gaseta. Dem Exgeneral, der am 16. Juni die Nachfolge von Boris Jelzin im Kreml antreten will, leuchtet die vielbeschworene friedenstiftende und stabilisierende Rolle der Nato in Europa nicht ein. Schließlich brauche die Nato, um ihre Existenz zu rechtfertigen und ein wie auch immer geartetes strategisches Gleichgewicht in Europa aufrechtzuerhalten, zumindest einen imaginären Gegner. „Da die potentiellen Gefahren für die Nato nicht benannt werden, kann es nur einem Blinden entgehen, daß der einzige Kandidat für die Rolle des ,bösen Buben‘ Rußland ist.“

Mindestens genauso schwer wie das Gefühl der Bedrohung wiegt in Moskau die Angst, isoliert zu werden. „Wir sprechen von der Erweiterung der Nato und meinen eigentlich die neue Isolation unseres Landes“, notierte Anatoli Utkin in der Wochenzeitung Literaturnaja Gaseta. Nach dem Vertrag von Versailles und der Gründung der Nato sei dies der dritte Versuch, Rußland von einem europäischen Sicherheitssystem auszuschließen. So eindeutig, wie die Schuldfrage geklärt ist, so heftig umstritten bleibt bislang die Beantwortung der zweiten Frage: „Schto delat, was tun?“ Zumal sich in Moskau die Erkenntnis durchgesetzt hat, daß der Nato-Zug in Richtung Osten nicht mehr aufzuhalten ist.

Die Verfechter der harten Linie wollen mit Nachdruck die rot- weiß-blaue Flagge zeigen. Sollte Rußland mit einem neuen mächtigen Block konfrontiert werden, wird es gezwungen sein, Verbündete zu suchen, ließ der russische Verteidigungsminister Pawel Gratschow unlängst verlauten. Das heißt: Vertiefung der militärischen Zusammenarbeit mit den GUS- Staaten, die Moskau ohnehin als seine Interessen- und Einflußsphäre deklariert hat.

Diese Position stößt in der letzten Zeit verstärkt auf Kritik. Eine derartige Integration, so die Gegner, würde zu viele Mittel verschlingen. Das könne sich Rußland angesichts der desolaten Wirtschaftslage nicht leisten. Außerdem hätte diese „harte Linie“ zur Folge, daß die Nato-beitrittswilligen Staaten wie Polen nur noch vehementer an die Tür des Brüsseler Hauptquartiers klopfen.

Was aber statt dessen tun? Derzeit mehren sich auch im engsten Umfeld von Jelzin die Stimmen derjenigen, die für eine pragmatische Lösung plädieren. Keine neue Konfrontation mit der Nato, dafür aber das Ja Rußlands zur Osterweiterung möglichst teuer verkaufen, heißt die Devise. Gedacht wird dabei an eine Änderung des KSE-Vertrages zugunsten Rußlands, eine Aufwertung der Sicherheitsinstitutionen in Europa wie der OSZE sowie spezielle Sicherheitsgarantien für Rußland. Dahinter steht die Überzeugung, daß ein europäisches Sicherheitssystem ohne Beteiligung Rußlands nicht möglich ist.

Unlängst schlug der Vorsitzende der Duma-Kommission für internationale Beziehungen, Wladimir Lukin, ein Sechs-Punkte- Programm als Grundlage zur Diskussion der Nato-Osterweiterung vor. Darin wird die Ausweitung der Funktionen des Europarates sowie ein Moratorium für die Festsetzung von Fristen und der Länder gefordert, die der Nato beitreten wollen. Auch müßten neue russisch-amerikanische Gespräche beginnen über die nukleare Abrüstung und die Anpassung bestehender Verträge an die neue Situation in Europa. Überdies sieht der Vorschlag die Stärkung der OSZE vor, „die sich zu einem Forum für die Erörterung der dringendsten Probleme Europas entwickeln soll, das heißt „eine Art UNO für Europa und die angrenzenden Länder“. Ob sich mit diesem Konzept die Hoffnung Lukins, den „Dialog der Tauben“ aus der Sackgasse herauszuführen, erfüllt, hängt auch davon ab, wie der neue Präsident Rußlands heißt. Barbara Oertel

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