Ein Gas mit Spätfolgen

Berlin (taz) – Einen medizinisch unbedenklichen Grenzwert für das leichtbrennbare, farb- und geruchslose Vinylchlorid gibt es nicht. Denn das Gas, das heute fast ausschließlich zur Produktion von PVC genutzt wird, reizt nicht nur die Atemwege, sondern kann schon in geringen Mengen krebsauslösend wirken. Akute Vergiftungen, die nach Einwirkung höherer Konzentrationen auftreten können, führen zu Entzündungen der Augenbindehäute, Atmungsorgane und Nieren. Durch die narkotisierende Wirkung des Gases, das sich bei hohen Konzentrationen durch einen süßlichen Geruch bemerkbar macht, kann es zu Herz-Kreislauf- Problemen kommen. Arbeitern, die über lange Zeiträume dem Gas ausgesetzt waren, haben die Vinylchlorid-Krankheit bekommen. Kennzeichnend dafür sind Schädigungen der Leber, der Milz und Knochenschwund.

An der Schönebecker Unglücksstelle waren die Feuerwehrleute über das Vinylchlorid hinaus zahlreichen anderen giftigen Substanzen ausgesetzt, die erst in der Hitze des Brandes entstanden sind: vor allem großen Mengen an Salzsäure und Spuren von Dioxin und Furan.

Für den Chemieexperten Joachim Lohse vom Hamburger Institut für Ökologie und Politik geht dennoch von Vinylchlorid wegen seiner krebsauslösenden Wirkung die größte Gefahr aus. Die Krankheit breche erst nach Jahren aus, und dann sei es sehr schwierig, einen eindeutigen Zusammenhang herzustellen. Lohse vermutet, daß aus diesem Grund die Feuerwehr auch nicht versuchte, den brennenden Kesselwagen zu löschen, sondern das Vinylchlorid ausbrennen ließ, so daß möglichst wenig des gefährlichen Gases in die Umwelt gelangte. Wolfgang Löhr