: Lieber einen Farbfernseher als ein Klo
■ Die Bucht von Rio de Janeiro soll gesäubert werden. Aber die Armenviertel wachsen, die Kanalisation ist unzureichend
An ein Leben im Müll haben sich die Einwohner des Armenviertels „Praia da Rosa“ (Rosenstrand) in Rio de Janeiro gewöhnt. Unter ihren Hütten auf Stelzen baumeln Kinderwagen und Kot, Kühlschränke und Klobrillen im Wasser. Die malerische Meeresbucht „Baia de Guanabara“ ist zu einer Kloake verkommen.
Die Folgen von wachsender Armut und Verstädterung bedrohen nicht nur die Tourismusmetropole Rio de Janeiro. Im Schwellenland Brasilien wohnen mittlerweile zwei Drittel der 150 Millionen Einwohner in Ballungsgebieten. Weniger als die Hälfte aller Haushalte sind an die öffentliche Kanalisation angeschlossen. Die Behandlung von Abwässern gilt in Brasilien als purer Luxus.
Rund um die Bucht von Guanabara wachsen Elendsviertel schneller als Abwasserleitungen. „Wir laufen der Wirklichkeit hinterher“, räumt Fernando MacDowell ein. Der Ingenieur kämpft seit einem Jahrzehnt für die Umsetzung des von ihm entworfenen Programms zur Säuberung der Bucht von Guanabara, das 1995 mit vierjähriger Verspätung in Angriff genommen wurde.
Doch mit jeder neuen Armensiedlung nimmt auch die Anzahl der Abwässer, die unbehandelt ins Meer fließen, zu. Im Zeitraum von 15 Jahren will MacDowell „das Abwasserproblem der 11-Millionen-Metropole in den Griff bekommen“. Ein Drittel des 800-Millionen-Dollar-Etats stammt von der Landesregierung. Den Rest steuern die Interamerikanische Entwicklungsbank (BID) und Japans Regierung bei.
Gerade 13 Prozent aller Abwässer, die in die Guanabara-Bucht fließen, wurden zuvor grob gesäubert. Mit Hilfe des international finanzierten Projekts soll der Anteil in den nächsten 15 Jahren auf 54 Prozent steigen. Im nationalen Vergleich steht Rio damit hervorragend da: 92 Prozent der rund 5.400 brasilianischen Gemeinden leiten nach Angaben des Statistikamtes IBGE ihre Jauche ohne jegliche Vorbehandlung direkt in den Fluß oder ins Meer.
Am „Rosenstrand“ spalten die Kanalisationsarbeiten die Einwohner in zwei Lager. Wer auf festem Grund und Boden wohnt, wird ans Abwassernetz angeschlossen. Die Bewohner der Pfahlbauten im Wasser, kostenloses Niemandsland, nutzen die Bucht weiterhin als Klo und Müllhalde. „Wir können die Pfahlbauten nicht an die Kanalisation anschließen“, erklärt Ingenieur Luis Edmundo Cascao. „Dafür“, so der stellvertretende Leiter des Programms zu Säuberung der Bucht von Guanabara, „gibt es keine Technik.“
Gegenüber dem Wachstum ihrer Favela sind die Einwohner selbst machtlos. „Die Leute kommen einfach hierher und bauen im Morgengrauen ihre Hütte auf“, erklärt Rosilda Moreira, Vorsitzende der Anwohnervereinigung. Niemand könne sie daran hindern. Das Interesse der „Palafita“-Bewohner an fließendem Wasser sei zudem nicht überwältigend: „Lieber kaufen sie sich von ihrem Geld einen Fernseher“, sagt Rosilda Moreira.
Angesichts der wachsenden Armut erscheint die Trockenlegung der Bucht von Guanabara eine Frage der Zeit. Die meisten Elendsviertel an den Ausläufern der Bucht von Guanabara waren zu Beginn wackelige „Palafitas“, Hütten auf Stelzen, die auf ihrem eigenen Müll in die Bucht hinauswuchsen. Allein an den Ausläufern der Favela „Praia da Rosa“ schwimmen 300 Hütten im Wasser. Die Favela gehört zu 19 Elendsvierteln, die in Rios Stadtteil „Ilha do Governador“ im Rahmen des Säuberungsprogrammes mit fließend Wasser versorgt werden. Die Hälfte der 2.000 Hütten ist bereits ans Netz angeschlossen. „Vorher haben die Leute einfach ihre Notdurft in einem alten Farbtopf verrichtet und dann alles ins Meer geschmissen“, erzählt Helen Nara, die in der Favela aufwuchs. Jetzt sei der Gestank weg, lobt die 39jährige.
Rund zwei Millionen Menschen leben derzeit in den rund 500 Favelas der Stadt. Hinzu kommen fünf Millionen Einwohner an der Peripherie. „Nur ein Fünftel aller Haushalte in den Vorstädten sind an die Kanalisation angeschlossen, das ist bereits ein soziales und ökologisches Desaster“, schreibt die brasilianische Tageszeitung Jornal do Brasil. Bereits überwunden geglaubte Epidemien wie Cholera und Gelbfieber fordern in den Armenvierteln, wo Kinder neben Abwasserrinnsaalen spielen, noch heute Todesopfer. Astrid Prange, Rio de Janeiro
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