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„Moderne“ entdeckt

■ betr.: „Streit auf der Titanic“, taz vom 25./26.5. 96

Walter Jakobs schreibt, wie der deutsche Michel denkt: Tarifrunde = „Proteste und rote Fahnen“, „Kontra“, „dramatische Sparappelle“. Und der deutsche Michel beziehungsweise Walter Jakobs hat dafür auch ein Wort, das zwar nicht zutrifft, aber zumindest überzeugend klingt: Das „Tarifritual“. Was Walter Jakobs alias deutscher Michel uns damit sagen will, ist simpel. Die Tarifpartner in ihrer unsäglichen Borniertheit streiten sich völlig umsonst, denn es gibt eine Lösung, und die heißt „Modernisierung“.

So sieht die Welt eines altlinken Journalisten eben aus, der sich in einem jahrelangen schweren Prozeß endlich von seinen linken Gedanken verabschiedet hat und dafür die „Moderne“ entdeckt hat.

Aber was passiert jetzt, nachdem er diese schwere Prozedur endlich beendet hat? Jetzt stellt sich heraus, daß die Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes überhaupt keine Rituale pflegen wollen, sondern tatsächlich eine Nullrunde plus diverser weiterer Schweinereien von ihren Beschäftigten verlangen. Und die Gewerkschaften beziehungsweise die Beschäftigten, die feststellen, daß es plötzlich überhaupt keinen Verhandlungsspielraum mehr geben soll, hängen doch tatsächlich die rote Fahne raus und weigern sich, diese Art der „Moderne“ zu akzeptieren.

Aber Walter Jakobs ist ein lustiger Geselle: Die reale Nullrundenforderung der Arbeitgeber firmiert bei ihm als „Nullrundengeschwätz“, der Widerstand gegen die Nullrunde heißt „Traditionalismus“. Und weil das alles so lustig ist, hat Walter Jakobs auch eine neue Idee: Er schlägt doch tatsächlich „intelligente Arbeitszeitmodelle“ vor. Das tun die Gewerkschaften zwar bereits seit Beginn ihrer Existenz, von der 48-Stunden-Woche über die 40-Stunden- Woche bis hin zur 35-Stunden-Woche. Aber das muß ein Walter Jakobs ja nicht wissen, denn das ist für ihn wahrscheinlich nicht intelligent. Für ihn heißt Intelligenz „Geld im Tausch gegen Freizeit“. Gewerkschaften nennen das üblicherweise Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich. Oder etwas platter ausgedrückt: Kürzere Arbeitszeit und dafür weniger Geld.

Daß dieser „intelligente“ Vorschlag für die Masse der im öffentlichen Dienst Beschäftigten schlicht und ergreifend eine Zumutung ist, muß ein Walter Jakobs auch nicht wissen. Dazu müßte er sowohl die Beschäftigungsstruktur als auch die Gehaltsstruktur kennen, und das wäre nun wirklich zuviel erwartet.

So träumt der Walter weiter von seiner „Moderne“, nachdem die Arbeitgeber – sowohl die des öffentlichen Dienstes als auch die Privaten – die Idee einer sozialpartnerschaftlichen Moderne schon längst aufgekündigt haben. Und der arme Walter steht im Stau, weil die Busse nicht fahren, und darf tausendmal vor sich hin sagen: „Arbeitskampf ist Traditionalismus, ist Ritual, ist unmodern, ist Arbeitskampf, ist Traditionalismus, ist Ritual, ist unmodern ...“ Sebastian Wertmüller,

Gewerkschaftssekretär des

DGB, Wiesbaden

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