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Der Glaube an die Kraft der Ideologie

Im Wahlkampf empfiehlt sich der Chef der russischen Kommunisten, Gennadi Sjuganow, dem Westen als zuverlässiger Partner. Dahinter verbirgt sich ein kompromißloser Chauvinist  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Die Ordensschwester bekreuzigt sich, kniet nieder vor dem Sarg des Heiligen Seraphim Sarowski und berührt ihn mit ihren Lippen. Dann bedeutet sie dem berühmten Gast, es ihr gleichzutun. Gennadi Sjuganow, Präsidentschaftskandidat der russischen Kommunisten, nickt flüchtig. Für einige Momente steht er da, rat- und regungslos, wie von Gott verlassen. Linkisch, fast fahrig betastet er schließlich den Totenschrein, um sich schnell abzuwenden.

Der Ritus der orthodoxen Kirche verlangt indes vom Gläubigen, daß er vor dem Sarg des Heiligen Seraphim Reue bezeuge und um Vergebung bitte. Handauflegen gilt als Fauxpas. Sjuganow bringt es nicht über sich, seine Unbeholfenheit bestürzt die Anwesenden. Als er das Kloster Dewejewo verläßt, ruft ihm ein junger Mann hinterher: „Zeig Reue oder stirb!“ Wahlkämpfer Sjuganow tut so, als höre er es nicht, und eilt schnurstracks auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo Lenin wartet. Dem Abbild aus Gips legt er Blumen zu Füßen. Routiniert, tausendmal praktiziert.

Seit langem buhlt der Kommunistenführer um die Gunst der orthodoxen Kirche und die Stimmen ihrer Schäflein. Keine Gelegenheit läßt er ungenutzt, um auf die fundamentale Rolle der Orthodoxie in der Kultur und im russischen Staatsverständnis hinzuweisen. Die fragwürdigsten Reaktionäre der Zarenzeit wie Unterrichtsminister Sergej Uwarow zählt er zu seinen Vorbildern. Uwarow prägte 1830 die Formel der Dreifaltigkeit von „Autokratie, Orthodoxie und Patriotismus“. In ihrem Namen zertrat er die zarten Pflänzchen der aufkeimenden Emanzipation.

Die Kommunistische Partei Rußlands tilgte auf Geheiß ihres Vorsitzenden das leninistische Prinzip des wissenschaftlichen Atheismus aus ihrem Programm. Eine Kröte, die der einflußreiche dogmatische Flügel nur widerwillig hinunterwürgte. Doch er schluckte sie im Interesse der Einheit und des Machterwerbs. Gennadi Andrejewitsch Sjuganow ist neben Boris Jelzin aussichtsreichster Prätendent auf die russische Präsidentschaft. Im Dezember erhielten die Kommunisten zu den Duma-Wahlen mehr als ein Fünftel der Stimmen und stellen die stärkste Fraktion im Parlament. Mit diesem Erfolg hofften die orthodoxen Parteigänger dem Griff nach der Macht ganz nahe zu sein. Einen aussichtsreicheren Bewerber als den ehemaligen Lehrer aus der Provinzstadt Orel hat die Partei nicht vorzuweisen.

Doch hinter den Kulissen herrscht alles andere als Einmütigkeit. Die Traditionalisten, unter ihnen Anatoli Lukjanow, der im August 1991 am Putsch beteiligt war, halten ihren Vorsitzenden für einen verkappten Bourgeois, der die Prinzipien des Leninismus verraten habe. Denn Sjuganow packte nicht nur den Atheismus beiseite, er verabschiedete sich auch vom Klassenkampf als dem Bewegungsprinzip der Geschichte. Zu guter Letzt mottete er selbst den Internationalismus ein.

Das beruhigte zumindest amerikanische Geschäftsleute, die der umgängliche Vorsitzende kräftig ermunterte, in Rußland zu investieren. Unter seiner Ägide würden die Investitionsbedingungen für ausländisches Kapital verläßlicher sein, als etwa unter Präsident Jelzin. Im winterlichen Davos feierte ihn die westliche Politik- und Wirtschaftselite schon als Sozialdemokraten und nährte den Argwohn seiner orthodoxen Parteigenossen daheim. Anders als der impulsive, gelegentlich unberechenbare und arglose Boris Jelzin vermittelt der Professor für Philosophie den Eindruck, vorsichtig, überlegt und zielgerichtet vorzugehen. Binnen kurzem schuf er um sich eine Aura, die ihn gar als den zuverlässigeren Partner empfahl.

Sjuganows Werdegang weist keine Brüche auf. Zielsicher steigt er die Parteileiter hinauf: vom Vorsitzenden des studentischen Gewerkschaftskomitees der Universität zum Bezirkskomsomolsekretär, der Jugendorganisation der KPdSU. Danach wird er Leiter des Stadt-, kurz darauf Gebietskomsomols. Schon bekleidet er den Posten des Ersten Sekretärs des Bezirksparteikomitees, und mit 30 Jahren rückt er auf zum zweiten Mann in der Stadt Orel. Den letzten Schliff erhält er an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der KPdSU in Moskau. Nach der Dissertation kehrt er nach Orel zurück und leitet fortan die Propagandaabteilung der Gebietspartei.

Mit 39 landet er wieder in Moskau, diesmal als Abteilungsleiter in der Propagandaabteilung des ZK. Er übersteht auch die Zeit der Perestroika ohne Blessuren, obwohl er den Sozialismus sowjetischer Prägung nicht für überholungsbedürftig hält. Als 1990 eine eigenständige russische KP gegründet wird, hält er seine Stunde für gekommen. Ausgestattet mit einem Sitz im Politbüro, kündigt er dem perestroikatrunkenen Generalsekretär Gorbatschow die Loyalität auf und avanciert zu einem seiner schärfsten Kritiker.

Das Schicksal bleibt ihm hold. Der Augustputsch 1991 schlägt fehl, während er sich mit seiner Familie am Schwarzen Meer erholt. Die Tage unmittelbar danach seien, schreibt der Chefredakteur der chauvinistischen Zeitung sawtra und Vorsitzende des rechtslastigen Schriftstellerverbandes, Alexander Prochanow, in einer Eloge auf den Parteivorsitzenden, die entscheidenden Stunden gewesen, als in dem Patrioten Sjuganow die Einsicht reifte, „Rote und Weiße zu einer Opposition“ zusammenzuschweißen. Rastlos reist er nun von einem Gründungskongreß nationalistischer Kräfte zum nächsten. Selbst mit eindeutig nationalsozialistischen und offen antisemitischen Gruppierungen wie der „Russisch-Nationalen Einheit“ und der „National-Republikanischen Partei Rußlands“ geht er Bündnisse ein.

Im Februar 1993 wird das Verbot der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF) endgültig aufgehoben und Sjuganow ihr Erster Sekretär. Unterdessen spitzt sich der Konflikt zwischen dem Obersten Sowjet und Präsident Jelzin zu. Anfang Oktober schlägt Jelzin die Meuterei der Parlamentarier blutig nieder. Am Vorabend des Sturms verläßt Sjuganow auf leisen Sohlen das belagerte Weiße Haus.

Unter den orthodoxen Mitstreitern wachsen Bedenken. Sjuganow ein Opportunist? Doch schon die Dezemberwahlen glätten die Wogen. Mit einem soliden Fundament von 12 Prozent ziehen die Kommunisten in die Staatsduma ein.

Zwei Jahre später bauen die Kommunisten ihren Wahlerfolg noch weiter aus. An Gennadi Sjuganow kommt nun keiner mehr vorbei. In der Zwischenzeit hat sich der Vorsitzende nicht nur als Humanist und moderater Kommunist empfohlen, den man nicht zu fürchten braucht. Vielmehr nutzte er die politikfreie Zeit, um sich auf wissenschaftlichem Gebiet einen Namen zu machen. Im vergangenen Jahr habilitierte er sich im Fach Philosophie. Ein Blick in seine gedankliche Arbeit lohnt. Gleich auf der ersten Seite der Monographie „Hinter dem Horizont“ legt der Autor dar, wessen geistig Kind er ist: „Die Schocks, die mit dem Zusammenbruch der UdSSR und dem Ende der bipolaren Welt verbunden sind, die anhaltende Erniedrigung Rußlands und dessen wachsende Entschlossenheit, auf den historisch ererbten Weg der nationalstaatlichen Entwicklung zurückzukehren, legen Zeugnis davon ab, daß eine Zeit ernster Umverteilung der geopolitischen Kräftebalance und ein Wandel im Vektor der kulturellen Weltsicht der Epoche nicht mehr weit sind.“

Ungeachtet der verquasten und gewollt intellektuellen Sprache, teilt der Autor die Kernthese sofort mit: Der Westen hat Rußland unterjocht und seine kulturelle Hegemonie über das Land errichtet. Das Unterfangen schlägt indes fehl, denn im 21. Jahrhundert wird die westliche Hemisphäre Zeuge einer grandiosen Erneuerung der russischen Großmacht.

Wie von selbst leitet sich daraus der Vorwurf an die Liberalen und die Administration des Präsidenten ab, Rußland in eine westliche Kolonie verwandelt zu haben. Mit Blick auf den Zusammenbruch der Sowjetunion könne man heute sicher sagen: „Die USA haben alles dafür getan und tun es weiter, um die Prozesse der Regeneration des russischen Nationalstaates zu komplizieren und wenn möglich zu zerstören.“ Das klingt nicht einmal nach „friedlicher Koexistenz“, wie sie Nikita Chruschtschow in den 60er Jahren gegenüber dem Westen praktizierte. Dem ehemaligen Generalsekretär der KPdSU hält er denn auch vor, durch den Mangel an strikter Ideologie die Partei „deformiert“ zu haben.

Doch damit nicht genug. Wichtiger als die Rolle des Marxismus- Leninismus sei die Leistung der Bolschewisten gewesen, binnen kurzer Zeit das zusammengebrochene Zarenreich wiederzuerrichten, trotz „der ideologischen Russophobie des radikalen kosmopolitischen Parteiflügels“. Das sind Vorwürfe, die Stalin gegen den Revolutionär Trotzki erhob, bevor er ihn beseitigte. Sjuganow weist sich nicht nur als Apologet des Tyrannen aus, er führt auch unterschwellig einen antisemitischen Diskurs.

Unter der freundlichen Haut des westtourenden pragmatischen Parteisekretärs steckt ein russischer Chauvinist, der die westliche Kultur haßt. Der davon träumt, die Sowjetunion wiederzuerrichten. Zwar auf „freiwilliger Grundlage“, doch da seien Bedenken angemeldet. In seiner Geschichtsbetrachtung haben sich über Jahrhunderte die Völker „freiwillig“ dem Reich angeschlossen. Außerdem plädiert er für eine vorbehaltlose Unterstützung des militärisch-industriellen Komplexes.

Politiker im Westen sollten es frühzeitig zur Kenntnis nehmen. Im Zentrum seines politischen Weltbildes steht Rußland, das eine eigenständige Zivilisation verkörpert und daher mit den Werten der anderen Welt, die dem Mammon- Götzen frönt“, nicht kompatibel sei. Er stilisiert Rußland zu einem messianischen Bollwerk, dessen Aufgabe darin besteht, die westliche Zivilisation auszubalancieren.

Knapp zwei Wochen vor dem Urnengang hat die KP noch immer kein offizielles Wirtschaftsprogramm vorgelegt. Drei Kommissionen waren beauftragt worden, Konzepte zu erarbeiten, keines erhielt bislang den Segen der Partei. Was werden sie anders machen als ihre Vorgänger? Wie ihr Wahlversprechen einlösen, das allen ein sattes Auskommen zusichert?

Im Parteiprogramm vom Januar 95 propagieren die Kommunisten alle Formen des Eigentums. Aber sie präzisieren nicht, in welchem Umfang Privateigentum geduldet – und privatisierte Betriebe wieder in Staatseigentum verwandelt werden sollen. Folgen sie dem revolutionären Leitfaden Lenins, müßten sie nach einem Wahlsieg zunächst mit der Nationalisierung der Banken beginnen. Nicht zufällig forderten kürzlich die Direktoren einiger Großbetriebe und Banken die Kontrahenten auf, sich vor den Wahlen auf einen Kompromiß zu einigen, um das Land vor einem Erdbeben zu bewahren. Noch wurde keine Einigung erzielt. Doch es gilt als sicher, daß jene Banken konfisziert werden, die nicht nur über Geld, sondern großen Einfluß auf die öffentliche Meinung verfügen, die private Sender und Zeitungen besitzen.

Auf Wahlveranstaltungen tritt Sjuganow derlei Mutmaßungen entgegen: „Keinem wird etwas weggenommen, sonst würde am nächsten Tag geschossen!“ Der Parteichef bemüht sich in Wirtschaftsfragen, ein gemäßigtes Porträt zu entwerfen. Doch die „wahren“ Kommunisten machen ihm das Leben schwer. Unter ihnen General Warennikow, der 1991 zu den Putschisten gehörte. Er brachte die Losung auf vom Minimal- und Maximalprogramm. Jetzt propagiere Sjuganow das Minimalprogramm, das Maximalprogramm hole man am Tage X aus der Schublade. Kein Wunder, wenn Sjuganow landauf, landab Transparente grüßen: „Sag uns die Wahrheit über das Maximalprogramm!“ Er kann es wohl nicht, weil es das Programm nicht gibt. Es ist nur eine Metapher für den Raubzug, von dem zu kurz gekommene Funktionäre träumen. Die KP bleibt ihrem sowjetischen Prinzip treu: dem unbeugsamen Glauben an die alles entscheidende Kraft der Ideologie. Diesmal eben nur der des Chauvinismus.

In den letzten Meinungsumfragen liegt Sjuganow mittlerweile hinter Boris Jelzin. Doch die Parteiführung reagierte nicht alarmiert, wenngleich sich Sjuganow jetzt verstärkt um Koalitionspartner bemüht. Manchmal scheint es, die Partei sei darüber sogar erleichtert. Denn auch die Oppositionsrolle bietet ausreichend Zugriff auf Pfründen. In der Regierung wären die Kommunisten indes zum Offenbarungseid gezwungen, dem unweigerlich eine Zerreißprobe folgte: Wollen Amts- und Mandatsträger dasselbe wie Basis und Wähler? Selbstverständlich nicht.

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