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Zahlenspiele mit jüdischen Zuwanderern

■ Ignatz Bubis wirft CSU-Entwicklungsminister Panikmache vor. Spranger berichtet von 800.000 ukrainischen Juden, die angeblich nach Deutschland wollen

Berlin (taz) – Mitarbeiter der deutschen Botschaft in der Ukraine haben dem CSU-Entwicklungsminister Carl-Dieter Spranger bei seinem Blitzbesuch in Kiew einen Bären aufgebunden. Angeblich 800.000 Juden würden im Land leben, die nichts anderes im Sinn hätten, als nach Deutschland auszuwandern. Weil Spranger dies offensichtlich glaubte und sich ganz ernsthaft in einem Interview mit der in Mainz erscheinenden Allgemeinen Zeitung über Zuwanderungsprobleme den Kopf zerbrach, hat er jetzt Ärger mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland bekommen.

„Es wäre gut, wenn Herr Spranger wissen würde, wovon er spricht“, meinte Ignatz Bubis im Mitteldeutschen Rundfunk. Solche Meldungen seien „Panikmache“. Tatsache sei, daß aus der gesamten ehemaligen Sowjetunion in den zurückliegenden Jahren 45.000 Juden nach Deutschland gekommen seien, „aus der Ukraine, wenn es hochkomme, 10.000 bis 15.000“.

In dem Interview hatte Spranger, ausgehend von der in Kiew behaupteten Zahl von 800.000 nach Deutschland drängenden Juden, befürchtet, daß solche „Kontingente“ möglicherweise zu einem „Konflikt mit Israel als Heimstatt der Juden“ führen könnten. Und zu deutschen innenpolitischen Konflikten auch. „Nachdem ich in der Botschaft mit diesem Problem erstmals eindrucksvoll konfrontiert worden bin, möchte ich jetzt keine Ratschläge geben. Es ist aber ein Thema, das wir anhand der Zahlen für unser Land (...) erörtern müssen. Ein unbegrenzter Zugang von Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion ist nicht möglich.“

Mit dieser Behauptung befindet sich Spranger im Einklang sowohl mit dem Auswärtigen Amt (AA) als auch mit dem Innenministerium. Denn das Wort vom „Mißbrauch“ der seit 1991 geltenden Kontingentflüchtlingsregelung für Juden aus der Sowjetunion macht dort schon seit Monaten die Runde. Bis Dezember 95 hatten 110.308 Personen einen Ausreiseantrag bei den deutschen Konsulaten in der GUS gestellt. Weitere „Hunderttausende“, schrieb das AA im Dezember 1995 in einem Runderlaß an die Botschaften, „sind in der Warteschlange“.

Nicht Antisemitismus in der GUS, sondern „wirtschaftliche Gründe“ seien das Auswanderungsmotiv, und viele Herkunftsnachweise seien gefälscht, so das AA. Das noch geltende großzügige Aufnahmeverfahren sei daher eine „offene“ Frage.

Sprangers Leichtgläubigkeit in Kiew – nämlich zu glauben, was man glauben will – ist somit als ein weiterer Baustein zu sehen, die Kontingentflüchtlingsregelung abzuschaffen. Anita Kugler

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