: Am schönsten sind die Leichen
■ Schulkinder stürmen mit bis zu 55 Klassen pro Tag an die Schätze des Bremer Übersee-Museums
Was sie sich angucken wollen? Das haben die SchülerInnen der 5. Klasse des Schulzentrums Pesta-lozzistraße bereits am Eingang des Übersee-Museums wieder vergessen. Erst nach langem Überlegen fällt den 11- bis 12jährigen eine Antwort ein. „Indianer“, sagt einer. „Affen“, ein anderer. Und alles ist falsch. „Das war wieder eure Sabbelstunde“, funkt Klassenlehrerin Karin Hauke dazwischen, die den Ausflug im Unterricht eigens vorbereitet hatte. Ein sommersprossiges Mädchen hebt schließlich den Finger und sagt es richtig: „Wir wollen zum Goldschatz.“
Mit 30 anderen Schulklassen schoben sich die Kinder letzten Donnerstag morgen die Treppe hinauf. Staunend bleiben sie auf dem Weg zum kolumbianischen Gold am ausgestopften Eisbären stehen, fragen sich, ob der echt ist, und zeigen Mitleid. Einige sind zum ersten Mal im Museum. „Wenn wir's nicht machen“, kommentiert die Gröpelinger Lehrerin, „geht niemand mit den Kindern ins Museum.“
Das Übersee-Museum gilt museumspädagogisch als das umtriebigste aller Bremer Museen. 60.000 Kinder und Jugendliche kamen bereits in diesem Jahr. 55 Klassen pro Tag sind nichts Außergewöhnliches. Während das Kinder-Angebot der Kunsthalle nahezu eingeschlafen war und das Focke-Museum eher heimatkundlich orientiert ist, bietet das Haus am Bahnhof immer wieder künstlerisch-kreative Aktionen. Über indonesisches Schattenspieltheater und Gamelan-Musik werden die Kids für die Sache interessiert. Anka Bolduan, seit elf Jahren Museumspädagogin, ist begeistert: „Es macht Spaß, zu sehen, wie wißbegierig sich die Kinder das Museum erobern. Schließlich wollen wir, daß sie als Erwachsene wiederkommen.“
Szenenwechsel. Inzwischen hat Museumspädagoge Ralf Birkenstock die Gröpelinger Klasse begrüßt. Er weiß, daß Datierungsmethoden und stilistische Analysen an diesem Vormittag fehl am Platz sind. Sattdessen fragt er vor einem Schaukasten mit Indio und Lama, wer schon mal ein Diorama gesehen hat. Die Antwort kommt promt: „Die kenne ich von den Überraschungseiern“, sagt ein kräftiger Junge mit Stoppelfrisur. Und als Birkenstock von den Hochtälern der Anden spricht und sich beiläufig nach dem höchsten Berg in Deutschland erkundigt, weiß auch diesmal eine Schülerin genau, was Sache ist. „Das ist doch klar“, sagt sie, „der Mount Everest.“
Magnet aber sind die Mumien. Tom, 12, rückt Baseball-Mütze und Comic-Shirt zurecht, pflanzt sich vor einem Guckloch mit Blick auf die Inkaleichen auf und sieht sich erstmal satt. Gekichert wird hingegen, als sich die Kids einer Vitrine mit erotischen Darstellungen nähern. „Versaut“, ruft jemand.
Doch während der einstündigen Führung bauen viele der kleinen Museumsgänger ab. Sie werde in den Museen immer müde, gibt Julia zu. Und Ninette findet, daß der Birkenstock viel zu viel labert. Die Kinder seien nur schwer zu interessieren, erklärt die Klassenlehrerin ein wenig frustriert. Viele seien eben kulturell völlig unbelastet, teilweise hätten die Eltern nicht mal eine Tageszeitung zuhause. Zudem gibt es Sprachprobleme. Ein Drittel ihrer Klasse kommt aus der Türkei, Somalia und Sri Lanka. „Es ist ganz was anderes“, sagt Karin Hauke, „ob Sie mit einer Klasse aus Oberneuland oder aus Gröpelingen hierher kommen.“
Auch Birkenstock hat seine Probleme als Vermittler. Es werde immer schwerer zu führen, sagt er. Durch die vielen Schulklassen sei es oft unerträglich laut unter dem „Dach der Welt“. Wegen der Museumsralleys flitzen Kinder herum und stören. Auch Kollegin Anka Bolduan ist frustriert. 10.000 DM Lottomittel und einen Senatszuschuß über 7.500 DM erhalte die Museumspädagogik im Jahr, nicht mehr. Das sei „viel zu wenig“. Nicht besser sieht es beim Personal aus. Obwohl die Ausstellungsfläche immer größer wird und sich die Besucherzahl 1996 verdoppelt hat, nimmt das Stammpersonal ständig ab. Gäbe es nicht zwei fürs Jubliäumsjahr bewilligte ABM-Stellen, sagt sie, würde der pädagogische Betrieb zusammenbrechen.
Egal, welche Probleme es hinter den Kulissen des Übersee-Museums gibt, die Kids aus Gröpelingen wissen am Ende genau, was sie am schönsten fanden. „Die Leichen“, sagt Tom und läßt seinen Ohrring blitzen, „weil die voll cool sind.“ Schließlich sehe man nicht jeden Tag einen toten Menschen, ergänzt Meral. Und manche wollen sogar wiederkommen. Aber nur, wenn es eine neue Dinoausstellung gibt. Dann stürzen sie nach draußen, wo es an einer Milchbar Lakritz-Schnuller und Diso-Lollys gibt.
Sabine Komm
In den Ferien bietet das Übersee-Museum Kindern zwischen acht und 14 wieder zahlreiche Kurse an. Zwischen 2. Juli und 9. August können Kids indonesische Gamelan-Musik, Schattenspieltheater und Figurenbau studieren. Zudem geht es nach Angaben von Museumspädagogin Anka Bolduan in den Ferien um Mythen der Nordwestküstenindianer, um die Heimat der Meerschweinchen, Totempfähle und Hosentaschen-Museen.
Termine und Kursgebühren sind im Übersee-Museum unter Tel. 0421/361-9736 oder 361-9180 zu erfahren.
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