: Teil der Explosion von 1968
Aufklärerisch, journalistisch, sachlich. Und immer mit der Kamera auf Suche nach dem „direct cinema“: Eine Videosammlung dokumentiert die Filmemacher der Stuttgarter Schule ■ Von Tilman Baumgärtel
In Roman Brodmanns Film „Der Polizeistaatsbesuch“ gibt es eine lange Einstellung, die ich nie mehr vergessen habe, seit ich sie vor über zehn Jahren zum erstenmal gesehen habe. Der Film dokumentiert den Besuch des Schahs von Persien 1967, der in West-Berlin zu den ersten großen Studentenkrawallen führte. Die Bundesregierung ließ damals sogar die Autobahnen sperren, über die der Schah durch Westdeutschland reiste – so sehr fürchtete sie einen Anschlag auf den Diktator.
Brodmann, der in diesem Konvoi mitfuhr, filmte durch die Windschutzscheibe, was auch das iranische Kaiserpaar von Deutschland gesehen haben muß: eine schnurgerade, leergefegte Autobahn. Auf den Brücken, die die Eskorte passiert, sind geisterhaft wirkende Polizeiwagen postiert. Die Polizisten, damals noch mit hohen, militärischen Helmen, grüßen zackig, als die Autos unter ihnen durchrasen. Sonst ist weit und breit kein Mensch, kein anderes Fahrzeug zu sehen.
Brodmann zeigt die Szene ungeschnitten, ohne Kommentar. Solche Plansequenzen versetzen den Zuschauer in „einen wahren Zustand der Wahrnehmung“, hat André Bazin geschrieben. In „Polizeistaatsbesuch“ sieht man auch aufwühlende Bilder von den prügelnden „Jubelpersern“ und dem ermordeten Benno Ohnesorg, die Brodmann später fast durch Zufall in Berlin aufnahm. Aber gerade durch die undramatische, lange Einstellung von der verlassenen Autobahn mit den grüßenden Polizisten habe ich eine Vorstellung von Westdeutschland Ende der Sechziger bekommen. Von einem Land, in dem der Faschismus vielleicht vorbei war, aber noch lange nicht überwunden; von einem Land, das sich schwertat beim Übergang zur civil society.
Brodmanns „Polizeistaatsbesuch“ ist einer von 16 Filmen, denen eine Ehre zuteil geworden ist, die Dokumentarfilmen in Deutschland nur äußerst selten widerfährt: Er ist auf Video wiederveröffentlicht worden. Das Stuttgarter Haus des Dokumentarfilms hat zusammen mit der Münchner TR-Verlagsunion fünf Videokassetten herausgebracht, die die wichtigsten Werke der sogenannten Stuttgarter Schule wieder zugänglich macht. Stuttgarter Schule wird eine Gruppe von Filmemachern genannt, die zwischen 1955 und 1973 für den Süddeutschen Rundfunk Dokumentarfilme produzierten und dabei eine sehr individuelle Sprache entwickelten. Die jetzt herausgegebene Edition, mit einem Begleitbuch des Medienwissenschaftlers Kay Hoffmann, läßt ahnen, was für Gemmen in den Archiven der öffentlich-rechtlichen Anstalten wohl sonst noch unter Ausschluß der Öffentlichkeit verstauben.
Die filmhistorische Wiederentdeckung der Stuttgarter Schule ist längst überfällig: Die Arbeiten von Autoren wie Roman Brodmann, Elmar Hügler, Peter Nestler oder Heinz Huber waren in Westdeutschland die ersten Dokumentarfilme nach dem Zweiten Weltkrieg, die für sich ästhetische Eigenständigkeit beanspruchen konnten, auch wenn manche frühen Filme mit ihren markigen Kommentaren heute zugetextet wirken und einige Regisseure, die vom Spiegel kamen, ihre Beiträge mit gedrechselt-ironischen Kommentaren (Brodmann: „Doch die Berliner Polizei will der Freund und Helfer der deutschen Demonstranten nicht sein“) unterlegten.
Von 1957 bis 1973 dauerte die goldene Epoche des Dokumentarfilms beim SDR: „Zeichen der Zeit“ hieß die Serie, die in diesen Jahren in Stuttgart produziert wurde, erst von Martin Walser, dann von Heinz Huber und ab 1968 schließlich von Dieter Ertel, der 1973, entnervt von senderinternen Streitereien um die Dokumentationen, zum NDR wechselte. Damit war die große Zeit des Dokumentarfilms beim SDR vorbei.
„Zeichen der Zeit“ begann mit einem turbulenten Vorspann. Die Titelmusik klang nach einer Mischung aus „Also sprach Zarathustra“ und James-Bond-Thema, ähnlich wie heute beim „Weltspiegel“. Dazu flackerte der Titel über den Bildschirm, als sei er gerade aus dem Ticker gelaufen. Die Filme, die folgten, kann man heute als ein Porträt der jungen Bundesrepublik sehen, vom späten Wirtschaftswunder bis zum Beginn der „Modell Deutschland“-Ära.
Auch die kürzeren Sendereihen, die der SDR produzierte, sind heute zeitgeschichtliche Dokumente: „Sie 67“ thematisierte die Rolle der Frau. „Miterlebt“ betrieb eine Art Alltagsgeschichtsschreibung im Fernsehen. „Notizen vom Nachbarn“ war pures direct cinema: Kommentarlos und ohne Distanz zu seinem Subjekt zeigte Regisseur Elmar Hügler alltägliche Dramen von der Geburt bis zum Umzug ins Altersheim.
Acht Millionen Fernseher gab es Anfang der sechziger Jahre in Deutschland, bis zu 20 Millionen Menschen saßen bei Straßenfegern wie dem Durbridge-Thriller „Das Halstuch“ vor der Glotze – oder „gaben sich dem Fernsehen hin“, wie es in „Fernsehfieber“ von Dieter Ertel und Georg Friedel 1963 heißt. Der Film ist ein tolles Beispiel für die Mischung aus aufklärerischem Impetus und journalistischer Sachlichkeit, das die Regisseure der Stuttgarter Schule motivierte. Fernsehantennen waren ihnen „Wünschelruten für Sphärenschätze“, die die Fernsehprogramme „aus dem Äther“ fischten. Das war damals eine ernste Sache, vielleicht sogar eine Gefahr: „Wenn Millionen zur selben Stunde das gleiche empfinden – hat die Vermassung dann nicht schon begonnen?“ fragen die Autoren kulturkritisch in ihrem Film...
Zu dieser Zeit hatten in den USA Dokumentaristen wie Richard Leacock, Don Pennebaker und die Gebrüder Maysles bereits begonnen, mit neuen, leichten 16- Millimeter-Filmkameras zu drehen; auch in Frankreich gingen Jean Rouch und Chris Marker mit ihren Kameras und tragbaren Tonbandgeräten auf die Straße und interviewten Passanten. Den Einfluß von direct cinema und cinéma vérité sieht man den Filmen der Stuttgarter Schule an. Aufnahmen wie in „Polizeistaatsbesuch“, wo persische Geheimdienstler brutal mit Holzlatten in die Menge der Demonstranten dreschen, wären mit den herkömmlichen 35-Millimeter-Kameras gar nicht möglich gewesen. Erst die kleinen, beweglichen 16-Millimeter-Kameras erlaubten den Kameramännern, direkt und spontan aufzunehmen, was um sie herum geschah.
Diese Bilder von den „Jubelpersern“ und den untätigen Berliner Polizisten haben damals viele deutsche Linksliberale zu Linksradikalen gemacht; ohne sie hätte es vielleicht keine APO und keine Studentenrevolte gegeben. In den Filmen der Stuttgarter Schule kann man viel von dem sehen, was zu der Explosion von 1968 geführt hat. Viele Linke fragten sich plötzlich, was das für ein Land war, in dem man nicht gegen einen brutalen Diktator protestieren konnte, ohne von der Polizei zusammengeschlagen und verhaftet zu werden.
Überhaupt, was war das für ein Land, das Westdeutschland der 60er Jahre? Die Filme zeigen die Welt noch schwarzweiß. Die Männer trugen schmale Schlipse, enge Jacketts und an den Kopf geklatschte Haare; die Frauen Kostüme mit Hahnentrittmuster. Im Ruhrgebiet regnete es Kohlenstaub. Passanten sagten: „Um was handelt es sich denn?“ wenn ein Fernsehreporter sie auf der Straße ansprach, und über dem Eingang einer Sparkasse stand: „Arbeit, Fleiß und Sparsamkeit schaffen Wohlstand alle Zeit.“ Und immer wieder im Hintergrund diese alten Männer und Frauen, die mit verkniffenem Blick von einem Fenster her zusehen, die Arme auf dem Fensterbrett verschränkt.
In neueren Filmen ist die Kamera noch beweglicher und mobiler, die Kommentare sind zurückhaltender oder fehlen ganz: Für „Wegnahme eines Kindes“ (1971) aus der Reihe „Notizen vom Nachbarn“ verläßt sich Elmar Hügler auf die anrührenden Bilder einer Mutter, deren Kind von ihrem geschiedenen Ehemann und Zivilpolizei abgeholt wird. Die Nachbarsfrauen stehen in Kittelschürzen vorm Haus und zischen dem Vater schwäbelnd hinterher: „Desch wird Ihne kei Sege bringe...“
Wenn sich die Regisseure der Stuttgarter Schule dem Alltag zuwandten, dann fanden sie nie das Beschauliche, das Pittoreske, sondern unheimliche Alltagsszenen und -dramen, die vorher offenbar noch niemandem aufgefallen waren: In „Schützenfest in Bahnhofsnähe“ (1961) lallt ein besoffener Schützenvereinsvorsitzender dem Filmteam von Vaterland, Disziplin und heiliger Traditionspflege ins Mikrofon, als spräche er von der Waffen-SS. In „Eine Einberufung“ (1970) wird aus der militärischen Ausbildung von Bundeswehrrekruten plötzlich ein staatsbürgerliches Drama, als sich ein junger Soldat weigert, einen Schießbefehl auszuführen. Bilder aus einem verschollenen Land namens Westdeutschland, das schon jetzt weit weg erscheint, untergegangen wie Atlantis.
Mit der Edition von „Zeichen der Zeit“ werden wenigstens eine Handvoll film- und zeitgeschichtlich wichtige Dokumentarfilme aus den Archiven der öffentlich- rechtlichen Anstalten befreit. Eine undurchsichtige Urheberrechtslage und die Trägheit der Fernsehanstalten haben sie dort verschwinden lassen.
„Zeichen der Zeit – Zur Geschichte der Stuttgarter Schule“. Fünf Kassetten (12 Std. Film), TR- Verlagsunion, 198DM
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