Solange das System arbeitet

Nach dem 1:1 gegen ein solide organisiertes Spanien sind die perfekt organisierten Franzosen auf dem Weg nach Wembley – oder nach Hause  ■ Aus Leeds Peter Unfried

Man sagt das so. Aber diesmal stimmt es. Javier Clemente hatte einen Zug um den Mund, als habe er in eine Zitrone gebissen. Die Frage an den Nationaltrainer war: „Ist Spanien jetzt ausgeschieden?“

„Die Frage“, antwortete Clemente, „verstehe ich nicht.“ Ausgeschieden nicht, kann man beispringen: Nach dem samstäglichen 1:1 gegen Frankreich sind die Spanier weiter ungeschlagen, und das nicht nur im Turnier, sondern seit dem WM-Ausscheiden 1994. Die Serie ist nun 19 Spiele lang. „Und das Remis“, findet Clemente, „ist doch ein gutes Resultat.“

Dem muß man hundertprozentig zustimmen. Es ist ein nahezu optimales Resultat. Allerdings nur für Spanien. Die Spanier, das hat man an der Elland Road gesehen, sind ein solide organisiertes Team mit einigen bemerkenswerten Individualisten.

Die Franzosen allerdings sind ein nahezu perfekt organisiertes Team mit mindestens zwei außergewöhnlichen Spielern. Diese beiden sind Jouri Djorkaeff und Christian Karembeu. Sie personifizieren, was Frankreich auszeichnet: Eine Synthese von offensiven und defensiven Qualitäten. Man muß sehen, wie der technisch perfekte Karembeu die rechte Seite hinunterrennt – und zwar in Richtung eigenes Tor. Man muß sehen, mit welcher Insbrunst und Freude er tackelte. Die Franzosen sind allesamt von bemerkenswerter Zweikampfstärke. Mit ihrem permanenten Ballgewinnen deprimieren sie ihre Gegenspieler.

„Wir sind gut, wenn wir das Mittelfeld kontrollieren“, sagte Trainer Aimé Jacquet. Das war nach der Pause nicht mehr ganz der Fall, als Clemente mehr wagte, den Angreifer Kiko für Otero brachte – und den Druck auf Deschamps und Guerin erhöhte. Hatte er sein Sicherheitssystem verändert? „Es kamen andere Spieler“, sagte Clemente, „die das Spiel verändert haben.“

Allerdings nicht so, daß der Ausgleich zwingend nahegelegen hätte. Die Spanier schießen keine Tore. Die ersten elf haben zusammen 28 Länderspieltore geschafft. Als der Trainer den altgedienten Julio Salinas (22 Länderspieltore) brachte, war klar, daß er nicht mehr auf das System, sondern auf das Glück hoffte.

Djorkaeff hatte da zwei Konter mit Loko und später mit dessen Nachfolger Dugarry inszeniert, und alles hätte erledigt sein können. „Der Abschluß war etwas beunruhigend“, sagte Jacquet. Sonst hat ihm alles ziemlich gefallen. Die Franzosen hatten auch in den späteren Phasen des Spiels nicht gestoppt, sondern immer weitergespielt. „Unser Spiel“, findet der Trainer, „ist gerade extrem gut.“ Daß es nicht zur vorzeitigen Qualifikation für das Viertelfinale reichte, lag an einer Sache, wie sie immer mal passiert. Didier Deschamps nahm den besser postierten Lizarazu die Kopfballabwehr ab, kam aus der Balance, wodurch der Ball vor den Füßen von Manjarin landete. Caminero mochte 85 Minuten gegenüber Loko und Dugarry staksig gewirkt haben – nun erledigte der Atletico-Stürmer seinen Job.

Man weiß es natürlich nie genau, aber es ist möglich, daß dieses Tor ein Einzelfall bleiben wird. Die Spiele der Franzosen davor endeten: 1:0 (gegen Rumänien), 2:0, 1:0 (in Stuttgart gegen Deutschland), 2:0, 2:0. Seit Herbst 1994 ist das Team nun gar in 25 Spielen unbesiegt. Desailly und Blanc machten nicht den Eindruck, als ob sie das Kassieren von Toren zur Gewohnheit würden werden lassen. „Dies ist ein Team, das in die Zukunft schaut“, sagt Jacquet. Die Zukunft heißt jetzt aber Newcastle, wo am Dienstag Bulgarien der Gegner ist. Schafft Spanien ein 2:0 gegen Rumänien, muß einer der beiden nach Hause.

Kurz vor Spielende, als es etwas abgekühlt hatte, sah man hinter dem Spielfeld, zwischen den grünen Hügeln von North Yorkshire, einen Zug vorbeifahren. Es wirkte, als brause er auf dem Dach von Elland Road. Der Zug fuhr Richtung London. Es wäre für den Fußball nicht schlecht, wenn die Franzosen ihn erwischten.

Spanien: Zubizarreta - Otero (59. Kiko), Lopez, Abelardo, Sergi - Alkorta, Hierro - Luis Enrique (55. Manjarin), Caminero, Amavisca - Alfonso (83. Salinas)

Zuschauer: 38.000

Tore: 1:0 Djorkaeff (48.), 1:1 Caminero (85.)

Frankreich: Lama - Angloma (65. Roche), Desailly, Blanc, Lizarazu - Karembeu, Deschamps, Guerin (81. Thuram) - Djorkaeff, Zidane - Loko (74. Dugarry)