piwik no script img

Unterm Strich

Vor einem Jahr war die Welt in Berlin noch in Ordnung. Die Currywürste hingen wie Lichterketten rund um das Brandenburger Tor, von weitem schon konnte man eine Dixielandband blasen hören, und auf der Straße des 17. Juni standen Büdchenchenbesitzer und wedelten mit silbernen Tüchern. Was war geschehen? Der Mauerfall lag fünf Jahre zurück, und die Feierlichkeiten zum Abzug der russischen Truppen hatten in Treptow stattgefunden. Na, dämmert es allmählich? Sein Name war Christo, und er wollte den Reichstag gemeinsam mit seiner Frau Jeanne-Claude verhüllen. An jenem 18. Juni vor einem Jahr also hing ein erster Lappen die Fassade herunter. Dann kamen Wind und Regen und ein paar Tage lang janüscht. Und ob Sie es glauben oder nicht – dieses Ereignis wird derzeit gefeiert. Christo-Jünger gedenken der Veranstaltung mit Sit-Ins und Fahnenzügen zwischen all den Tunnel- und sonstigen Investorenlöchern am Reichstag. Derweil erklärte Wolfgang Völz als verantwortlicher Projektmanager, daß alle durch das Reichstagsprojekt verursachten Kosten von 14 Millionen Mark, demnächst abgezahlt sind. Wir werden Sie darüber nicht weiter auf dem Laufenden halten.

Auch schwer zu glauben: Karl-Heinz Stockhausen bekommt die Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin für sein Gesamtwerk verliehen. Nicht von den Musikwissenschaftlern allerdings – die philosophische Fakultät hat den Elektronikkomponisten und Musiktheoretiker aufgenommen. Demnächst werden dann Derridas Texte zum schwierigen Verhältnis zwischen Husserl, seiner Stimme und den Ohren am Ringmodulator überarbeitet, wobei vermutlich das Medium als Message herauskommt. Zur Laudatio jedenfalls spielten Suzanne Stephens und Katinka Pasveer bereits das Stockhausen-Stück „Fremde Schönheit“.

Ähnliche Aufstiegshoffnungen können sich all die Kinder zwischen 8 und 25 Jahren machen, die dieses Jahr zu Zwölftausenden bei „Jugend musiziert“ teilgenommen haben. Wegen des großen Andrangs wird der Bund „die Erfolgsstory ,Jugend musiziert‘ weiter finanziell unterstützen“, kündigte Bundesfamilienministerin Claudia Nolte (CDU) zum Abschluß des Wettbewerbs an. Zuvor hatte sie sich 12.000mal Mozarts „Kleine Nachtmusik“ geflötet, gebratscht und durchklaviert anhören müssen.

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen