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„Könnt ja nach Kuba gehen!“

Fremd ist der Fremde vor allem daheim: Das Festival „Theater der Welt in Dresden“ will die ganze Stadt einbeziehen. Zur Eröffnung gab es Tomaž Pandurs „Babylon“-Spektakel und die „Orestie“ der Societas Raffaello Sanzio  ■ Von Petra Kohse

An der Bahnsteigkante würde sie einem gewiß nicht auffallen, die Dame mit Brosche am Kostüm, die sich am Bügel ihrer robusten Handtasche festhält. Doch sie ist auf einem Foto zu sehen, das, riesig auf Tuch gezogen, den Dresdner Hauptbahnhof halb ausfüllt. Und dort, wo sie freundlich verunsichert in die Kamera lächelt, ist Wüste und sind im Hintergrund zwei Pyramiden. Neben Plakaten wie dem mit der Frau am Strand von Irgendwo, die dank Telly-D1-Netz weiß, wie es den Kindern zu Hause geht, behauptet die Dame von ihren braunen Pumps bis zu der vom Wüstenwind zerzausten Dauerwelle eine geradezu provozierende Fremdheit in der Welt. Was für sie kein Nachteil sein muß. Denn im Dienste der Differenz ist man mit einer Handtasche gegen einiges gewappnet, und schließlich könnte man es auch so sehen, daß sich nicht die Dame in die Wüste, sondern die Wüste um die Dame verirrt hat. Nicht zu Unrecht wirbt das Foto für das Festival „Theater der Welt in Dresden“.

Alle zwei bis drei Jahre wird ein solches Welttheatertreffen auf Initiative des Internationalen Theaterinstituts veranstaltet, immer in einer anderen deutschen Stadt. Das Dresdner Konzept für dieses Jahr ist paradoxerweise ein lokales. Die Programmdirektorin Hannah Hurtzig wollte nicht das Spektakuläre präsentieren, sondern Produktionen, die eine Chance haben, in Dresden wirklich verstanden zu werden oder idealerweise auch vor Ort entstehen.

Der Stadtalltag im siebten Jahr nach dem Mauerfall als Bezugspunkt für die theatralischen Chiffren der Restwelt – ein Alltag zwischen der Rekonstruktion des Stadtschlosses und der Planung eines neuen Kongreßzentrums, zwischen „Arbeitsplatzoffensive“, Semperoper und einer zaghaften Club-Szene. So steht heute abend eine Performance der britischen Station House Opera auf dem Programm, bei der 8.000 Gasbetonsteine vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche zu Türmen, Mauern und Treppen geformt werden, während französische und deutsche Tänzer den Besuchern in einem ehemaligen Ballsaal eigens geschaffene Schrittfolgen beibringen. „Gehen Sie auf Weltreise in Dresden! Fremdeln Sie in Ihrer gewohnten Umgebung! Kommen Sie mit oder ohne Handtasche!“ lautet die Einladung.

Das Begleitprogramm ist paßgerecht: Im Festivalzentrum auf den Elbwiesen können sich Besucher und Besucherinnen ihr Gesicht geschlechtsumschminken lassen, wobei sie nachher nicht alle Zazie de Paris gleichen, was zu befürchten wäre, sondern erneut einfach Durchschnittstypen. Wie die Fotos an der Schminkhütte dokumentieren, ist kaum festzustellen, ob jemand als Mann oder als Frau unter den Pinsel kam.

Auch die sieben Stellwände mit Fotos und Texten, die Bettina Flitner einen Steinwurf entfernt auf der Augustusbrücke installiert hat, finden ein Publikum, das sich von ihnen irritieren läßt. Die 35jährige Fotografin, die ähnliche Aktionen schon in Köln gemacht hat, fragte Passanten, was sie tun würden, wenn sie ein mit überirdischen Kräften begabter „Rächer von Dresden“ wären. Die Gesprächsbereiten wurden mit Zorro-Maske und Umhang fotografiert.

Eine Rentnerin etwa würde nach Bonn fliegen und Rechenschaft für die Rentenreform verlangen. Ein Mädchen mit Overknees ist gegen Autos und Videorecorder, und eine Frau mit Handtasche (ohne Bügel) würde als „Rächer der Belegschaft von Polstermöbel Variant“ ihrem ehemaligen Chef gerne die mittlerweile lukrativ vermieteten Räume anzünden. Wehe, wenn sie losgelassen? Schon sind die Tafeln vollgekritzelt. „Wir wollen unsere DDR zurück“ steht da, aber auch: „Könnt ja nach Kuba gehen!“

Während diese beiden Aktionen darauf setzen, daß im Bürger mit dem Unbekannten auch Handlungsspielräume frei werden können, gehen zwei der ersten Theaterarbeiten, die gezeigt wurden, von der entgegengesetzten Voraussetzung aus. Der Mensch im Schicksalsnetz ist hier zu sehen, und kein noch so geheimes Neben- Ich könnte ihn erlösen. Wobei Tomaž Pandur vom Slowenischen Nationaltheater Maribor mit „Babylon“ wenigstens bei der Frühgesellschaft bleibt, Romeo Castellucci und die Societas Raffaello Sanzio ihre „Orestie“ jedoch als Endlosschleife anlegen, die jede Anbindung an die Vorstellungswelt der Antike verloren hat, aber deswegen nur um so heftiger kreist.

Der 33jährige Pandur ist so etwas wie ein früher Robert Wilson der Sinne und Säfte. Vielfach preisgekrönter Anhänger eines Ausstattungstheaters, das statt der Spannung die Synthese sucht und die totale Geschichte zelebriert. Seit sechs Jahren leitet er das Nationaltheater in Maribor und inszenierte zuletzt Dante und Dostojewski. Nun geht es um „Babylon“, einen Text, den der Dramatiker Ivo Svetina (in einem „Obstgarten am Fuße eines hohen Berges“) nach dem mesopotamischen Weltschöpfungsepos verfaßt hat. Wie Königin Samuramat König Nin einen Jungen gebiert, wie Samuramat nicht will, daß dieser so kriegerisch wird wie sein Vater, wie sie ihn daher in einem eigenen Palast aufzieht, ihn mehr als mütterlich an ihrer Brust hält, durch diese götterungefällige Obsession aber das Reich ins Elend stürzt und schließlich vom eigenen Sohn schwanger und ermordet wird.

Eine tragische Geschichte, mit immerhin einem Funken Hoffnung am Ende. Denn daß aus Samuramats Bauch eine weiße Taube fliegt, bestätigt doch diejenigen, die sich dem (falschen?) Weltenplan zu entziehen suchten. Aber da ist das Stück schon aus, und Pandur hat das politische Moment schon vorneweg in rituellen Bädern ertränkt, unter knackigen Männerärschen erdrückt, durch akrobatische Zungenküsse zerschlängelt. Und all das Tanzen, Stampfen, Brüllen und beiläufiges Ficken — eine räucherkerzengeschwängerte Kraftrevue.

Der Bühnenraum immerhin ist ein Ereignis. Der Turm von Babel, wie er sich kaum träumen ließe. In Dresden stand er im Festspielhaus Hellerau. Auf vier Ebenen und an allen vier Seiten sitzt das Publikum hinter der reichverzierten Mauerkulisse und linst durch Schlitze tief nach unten, wo auf verschiedenen Lehmquadern und den Schluchten dazwischen die babylonische Gesellschaft lagert, angetan mit nichts als Bronzefarbe, Umhängen oder perlenbestickten Bustiers. Bei der Geburt des Sohnes Adar öffnet sich erst ein geheimes Becken, dann die Bronzekugel auf dem Bauch der Mutter... Zunächst fasziniert diese hermetische Opulenz durchaus. Um den Mangel an Erkenntnisinteresse, Distanz und Humor ins Rituelle hin auszugleichen, hätte die Aufführung jedoch mindestens ekstatisch sein müssen. Sie war aber nur erigiert.

Ästhetisch das definitive Kontrastprogramm dann bei der Societas Raffaello Sanzio im Kleinen Haus. Die 1981 gegründete Truppe aus Cesena arbeitet sozusagen ganzheitlich. Es gibt eine Theaterschule, deren wichtigstes Anliegen die Persönlichkeitsbildung ist. Was wohl weniger psychologisch als philosophisch zu verstehen ist. Denn das komplex fragmentarische Gebilde, das Romeo Castellucci mit seiner Adaption der „Orestie“ des Aischylos komponiert hat, geht davon aus, daß der Mensch nicht wirklich eine Chance hat.

Die Orestie hinter einem Gazeschleier, ein weiteres waste land. Die Rachemorde der Familie, gesehen vom weißen Kaninchen aus „Alice im Wunderland“ (Kaninchenchorführer). Der verständnislose Blick auf ein in den Jahrtausenden sinnlos gewordenes Rachemorden. Kriegsspielzeug kriecht über die Bühne, die Gipskaninchen des Chores explodieren. Kassandra wütet fettleibig und nackt in einem Glaskasten. Ein Stuhl dreht und dreht sich. Agamemnon, der den vorigen Gatten der Klytämnestra ermordete, setzt sich darauf. Der Darsteller ist ein Mann mit einem Down-Syndrom, unerreichbar fröhlich und zum Opfer prädestiniert. Agamemnons gleichfalls fettleibige Frau ermordet ihn dafür, daß er Iphigenie geopfert hat, und duscht daraufhin in Blut. Später wird auch sie ermordet, von ihrem Sohn Orest.

In einer wunderbaren Szene kommen Orest und Pylades auf die Bühne. Schmutzigweiß bepudert, nackt, dünn, müde bis zur Ohnmacht. Elektra tritt auf, fettleibig, in einem Tutu. Sie zerrt ein totes, ab dem Hals gehäutetes Schaf aus einer Truhe, installiert Schläuche im geöffneten Bauch, in die Orest hineinpusten muß. Ein Herz beginnt klackernd zu schlagen, „Agamemnon lebt!“ sagt Elektra. Ein Alptraum. Pylades hat ein „Messerstichgerät“ gebastelt, das sich Orest über den Arm streift, bevor er zu seiner Mutter geht. Als er wieder auf sein Bettgestell fällt, zuckt die Maschine weiter.

Sinnfälligere Bilder für die Sinnlosigkeit sind kaum vorstellbar. Indes, es ist nur eine Szene in einem symbolistischen Reigen, den Castellucci bedächtig weiter und weiter treibt. Echte Pferde, Esel und Affen kommen auf die Bühne (ein Vorwurf an die Menschen?), der Darsteller des Apollon, in dessen Tempel Orest flieht, hat keine Arme — das durch die Jahrtausende verletzte Bildnis als Lichtgestalt. Und ganz am Ende, als Orest in den Glaskasten zu den Affen (Erinnyen) kriecht, verklebt er sich Ohren, Augen und Mund!

Ein Ritual der Selbstkasteiung, wobei die Anklage menschlicher Handlungsunfähigkeit unversehens zur Apotheose derjenigen gerät, die per se nicht handeln können. Wo Pandur seinen Trost im Kitsch sucht, weicht Castellucci in ein fatales Verständnis von der alleinigen Authentizität des Fremden aus. In Interviews sagt er, behinderte Menschen hätten „perfekte Körper“, „voller mystischer Kraft“. Apollon trägt übrigens die gleiche Augenmaske wie die resoluten „Rächer von Dresden“. Bringen Sie Ihre Handtaschen mit.

Theater der Welt in Dresden, bis 30. Juni, Infos unter Tel.: 0351- 4913555

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