: Nicht wieder Lachs!
■ Die große Lachsschwemme – ist das populäre Motiv eine Legende? / Neu: Bremisches Jahrbuch 1995/96
Ein weißes, schmuckloses Büchlein kommt dieser Tage auf den Markt, es heißt „Bremisches Jahrbuch 1995/96“ und wird herausgegeben vom Staatsarchiv Bremen in Verbindung mit der Historischen Gesellschaft Bremen. Halt! Zu früh gegähnt! Perlen verstecken sich in diesem Buch! Zum Beispiel geht es in einem ungewöhnlich spannend zu lesenden Aufsatz um den Weserlachs und sein Verhältnis zu den Bremischen Dienstboten – und am Ende ahnt man, warum es Spaß machen kann, Geschichtswissenschaftler zu sein.
Dem Bremer Historiker Klaus Schwarz war eine Notiz im Weserkurier aufgefallen, in der es um den einstmals phänomenalen Lachsreichtum in der Weser ging. Das ging so weit, daß Dienstboten darüber klagten, an zu vielen Tagen Lachs essen zu müssen. Eine Meldung, die unsereinem sofort einleuchtet: Weserkorrektur, Weserwehr, Salz im Fluß – wir Ökoschweine haben die früheren Lachsschwärme aus der Weser getrieben. Doch Klaus Schwarz nahm die Meldung zum Anlaß, geradezu detektivisch auf Recherche zu gehen. Wo hat wer in verflossenen Jahrhunderten über Lachse geschrieben?
Ziemlich schnell stellte sich heraus: Das goldene Lachszeitalter war genau wie die „gute alte Zeit“ immer schon längst verflossen. Gehen heutige Autoren davon aus, daß der Lachs noch im letzten Jahrhundert überreichlich in die Weser schwamm, so wird das Lachsschlaraffenland im letzten Jahrhundert auf noch frühere Zeiträume datiert. Eine historische Untersuchung von 1841 verlegt den Überdruß am Lachsessen ins 13. Jahrhundert, als Mönche eines Klosters bei Halle verlangt haben sollen, höchstens zwei- oder dreimal in der Woche Lachs essen zu müssen. Zahllose Quellen erwähnen Gesindeverordnungen oder Verträge zwischen Herrschaft und Dienstboten, die zu viel Lachs auf dem Mittagstisch ausschlossen.
Akribisch stellt Klaus Schwarz für das 18. und 19. Jahrhundert Preisvergleiche an, um zu überprüfen, ob der Lachs einmal, weil reichlich, sehr billig war. Er kommt zu dem Ergebnis, daß die Lachspreise an Elbe, Weser und Rhein nur einmal, in der Mitte des 17. Jahrhunderts, im Keller waren. Doch auch für diesen Zeitraum gibt es Belege, daß nach wie vor der Lachs als „Herrenfisch“ galt. 1654 nahm im Bremer Schütting ein schwedischer Reichsrat die Huldigung für seinen König entgegen: 22 Kapaune, 12 Gänse, 13 Hasen und 70 Hühner wurden aufgetragen, aber nur zwei Lachse. Lachs kostete fast durchweg das Vielfache von Butter; für ein Pfund Lachs mußte ein Handwerker seinen Tageslohn oder mehr hinlegen.
Ein Magenfüller oder gar ein „Fraß“ für unwillige Dienstboten sei der Lachs nie und nimmer gewesen – „für alle anderslautenden Angaben in der erzählenden und wissenschaftlichen Literatur ist bisher nicht ein einziges sicheres zeitgenössisches Zeugnis erbracht worden,“ stellt der Bremer Historiker fest. Seine überraschende Erklärung der Lachsschwemme: alles Lüge! Der sagenhafte Lachsreichtum unserer Flüsse in uralter Zeit ist ein uraltes Lügenmärchen, „im Kern eine Geschichte vom Schlaraffenland“. Bedeutende Schlaraffen-landforscher vertreten schon länger die These, das Schlaraffenland drehe als verkehrte Welt nur die tatsächlichen (schlechten) Verhältnisse um, sei in Wirklichkeit eine „plebejische Utopie“, ein Märchen für Arme und Hungerleider. Zum Beispiel Dienstboten. Ist es ein Zufall, daß in populären Schlaraffenlandtex-ten die Zäune aus Lachsen bestehen?
Und so wandert das Motiv des Lachsüberflusses mit leichten Variationen durch die Jahrhunderte, durch wissenschaftliche Werke, Zeitungen und Literatur. In Theodor Fontanes Roman „Frau Jenny Treibel“ kommen zwar nicht Lachse vor, sondern Krebse; aber sonst stimmt alles: Damals, vor hundert Jahren ... zu Hunderttausenden ... daß es verboten war, dem Gesinde mehr als dreimal wöchentlich Krebse vorzusetzen. Ein Lügenmärchen, zu schön, um es nicht zu glauben, und auch die Publikation im Bremischen Jahrbuch wird es nicht schaffen, sie aus der Welt zu bekommen. Klaus Schwarz sagt am Schluß bescheiden: „Nur sollte die Legende in ihrer bisherigen Form nicht länger kommentarlos fortgeschrieben werden“. Dem Wunsch wird entsprochen: der Kommentar liegt hiermit vor.
Burkhard Straßmann
Weitere Themen des Jahrbuchs: Das Linzer Diplom und 350 Jahre Bremer Reichsfreiheit; die Bronzetaufe im Bremer Dom; die mittelalterlichen Anfänge der St. Michaelis-Gemeinde; Freiherr Knigge; ein Verfahren wegen „Wehrkraftzersetzung“ gegen eine Bremerin im Zweiten Weltkrieg; archäologische Funde in Arbergen. Darüberhinaus gibt es einen umfangreichen Rezensionsteil zu neuen bremischen und niedersächsischen landesgeschichtlichen Publikationen. Das Jahrbuch erscheint im Selbstverlag des Staatsarchivs, hat 376 Seiten und kostet 38 Mark.
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