: „Das ist die Struktur eines totalitären Systems“
■ Dem Tübinger Theologen Norbert Greinacher ist für eine Begegnung mit dem Papst „die Zeit zu schade“. Aber trotz aller Kritik an der Amtskirche: Ganz ohne Institution geht's nicht
taz: Herr Greinacher, was macht ein fortschrittlicher Mensch noch in der Kirche?
Norbert Greinacher: Was mich nach wie vor fasziniert, ist die ursprüngliche neutestamentarische Botschaft. Nämlich, daß es nicht mehr den Unterschied zwischen Herren und Sklaven gibt, nicht mehr den Unterschied – jetzt zitiere ich das neue Testament – zwischen Männern und Frauen, zwischen Griechen und Barbaren, sondern daß alle unmittelbar einen Zugang zu Gott haben. Das ist eine faszinierende geistige, geistliche Revolution, vor allem vor dem Hintergrund der damaligen Zeit.
Aber die revolutionäre Botschaft hat mit den heutigen Kirchenstrukturen doch wenig zu tun.
Also, wir haben dieses wirkliche Evangelium, diese Freudenbotschaft, die ich angesprochen habe. Die ist dann ins Absurde verkehrt worden. Dennoch braucht es eine Institution. Mir ist klar, daß Botschaften nur tradiert werden können, nicht der Vergessenheit anheimgegeben werden, wenn es eine Institution gibt.
Dann stellt sich die Frage: Wie kann diese Institution reformiert werden, damit sie die Botschaft wieder verkündet?
In der jetzt fast 2.000jährigen Kirchengeschichte gab es immer wieder Versuche von einzelnen und von Gruppen von Menschen, auf diese Tradition zurückzukommen. Auch in anderen Institutionen, etwa in der Universität, in den Gewerkschaften und Parteien, erdrücken bürokratische Strukturen immer wieder die ursprünglichen Ansätze.
Die Amtskirche verweigert sich aber schon sehr lange der Reform. Und auch der deutsche Laienkatholizismus, dessen wichtigstes Gremium ein Zentralkomitee aus dem 19. Jahrhundert ist, bietet wenig Ansatzpunkte zur Reform.
Das sehe ich anders. Natürlich gibt es eine bürokratische Erstarrung in der Kirche. Ich sehe allerdings auch Aufbrüche. Nehmen Sie die „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika, Bischof Gaillot in Frankreich oder auch die revolutionären Aufbrüche in der Kirche in Afrika und Asien.
Die der Papst aber aufzuhalten versucht ...
Ja, aber sicher.
Und was ist die Konsequenz?
Sich nicht auf diesen Papst zu fixieren. Die katholische Kirche ist nicht dieser Papst. Das Entscheidende passiert in den Gemeinden.
Sie empfehlen nicht nur den Papst zu ignorieren, sondern die Bischöfe am besten gleich mit?
Nicht ignorieren, aber als Christ und Christin das tun, was man für richtig hält und sich wenig um das kümmern, was ein Bischof oder ein Papst sagt. Das geschieht ja auch. Das erlebe ich immer wieder auf meinen Reisen durch Europa.
Dann stirbt die Institution ja doch von oben ab.
Nein, ich bin Realist genug, um zu wissen, das Institutionen notwendig sind.
Sie haben aber gerade gesagt, man soll sie ignorieren. Wozu sind sie dann gut?
Es gab in den letzten 30 Jahren auch auf der oberen Ebene radikalreformerische Ansätze. Es gab das zweite vatikanische Konzil von 1962–1965, es gab die Reformbemühungen in der Synode in Deutschland von 1972–1975.
Reform von oben? Das würde ja heißen, zu warten, bis der Papst stirbt, und zu hoffen, daß beim nächsten Konklave ein klügerer Mensch gewählt wird?
Beim Konklave, wenn der nächste Papst gewählt wird, tun das 120 Kardinäle. 100 davon hat der jetzige Papst ernannt. Das ist die Struktur eines totalitären Systems. Das hat es eigentlich nur in der KPdSU der Sowjetunion gegeben. Das ist ein gravierendes, strukturelles Defizit.
Die unten sollen sich nicht um die Hierarchie kümmern, und die oben sind reformunfähig. Schlechte Aussichten für Ihre Institution.
Immerhin gibt es noch die Initiative Kirche von unten, das Kirchenvolksbegehren, bei dem zwei Millionen Unterschriften für eine neue und ursprüngliche Kirche gesammelt wurden. Und es gibt die Möglichkeit, der Kirche das Geld zu entziehen, indem man austritt, das machen ja auch viele. Und ich wiederhole, viele engagieren sich vor Ort, in den Gemeinden.
Können Sie dem Papstbesuch etwas abgewinnen?
Hans Küng hat letzte Woche gesagt, dieser Papst ist eine Last für die Kirche. Das würde ich unterstreichen. Seine Aufgabe, den Dienst an der Einheit der Kirche, erfüllt er nicht, auch nicht bei diesem Besuch.
Würden Sie zum Papst gehen, wenn er Ihre Stadt besuchte?
Nein. Dafür ist mir die Zeit zu schade. Interview: Hermann-J. Tenhagen
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