: Ignorieren statt eingreifen
■ StudentInnen testeten die Reaktion von BVG-Fahrgästen bei sexueller Belästigung. Ernüchternde Bilanz: Die meisten gucken weg, besonders wenn die U-Bahn voll ist
Ein Mann mit Walkman auf dem Kopf sitzt breitbeinig in der vollen U-Bahn und glotzt die Frau ihm gegenüber unentwegt an. Die Frau wird nervös, streicht sich durchs Haar, versucht den unangenehmen Blicken auszuweichen.
„Willst du ein Kaugummi?“ fragt der Mann sie. Er lehnt sich weiter vor, nimmt mit der einen Hand sein Kaugummi aus dem Mund, betatscht mit der andern ihre Oberschenkel und säuselt „Oder willst du meins?“ Jetzt reichts der Frau: „Das ist ja ekelhaft! Merkt denn eigentlich keiner, daß der Typ mich belästigt?“ Die vielen Passagiere verstecken sich hinter ihren Zeitungen, wühlen in ihren Taschen, schauen weg.
Die Szene der Belästigung war gespielt, das „Weggucken“ der Mitfahrer nicht. Wie reagieren die Leute in der U-Bahn, wenn neben ihnen eine Frau sexuell belästigt wird? Unter dieser Fragestellung führte eine studentische Arbeitsgruppe des Otto-Suhr-Instituts für Politik an der FU eine Feldstudie durch. Gestern wurden die Ergebnisse vorgestellt.
Für ihre Untersuchung entwickelten die StudentInnen unter Leitung des FU-Politologie-Professors Peter Grottian ein Rollenspiel zur sexuellen Belästigung. Bewußt wählten sie eine sehr häufige Alltagssituation „subtiler Belästigung“. Ihr sogenanntes verstecktes Theater spielten sie 14mal tagsüber auf den U-Bahn-Linien U1 und U2. Neben den beiden „HauptdarstellerInnen“ waren mehrere studentische BeobachterInnen dabei, um die Reaktionen der anderen Fahrgäste festzuhalten.
Die StudentInnen erlebten in den meisten Fällen „eine Mauer des Schweigens“, so Valeria Borbonus, die Sprecherin der Gruppe. In vielen Fällen seien die Leute spürbar nervös geworden und hätten sich hinter ihren Zeitungen versteckt oder „angestrengt weggeschaut“. Nur in drei Fällen griffen Umsitzende ein. Zwei Männer wiesen den Belästiger zurecht. Eine Frau habe den Belästiger sogar aggressiv angeschrien: „Haben Sie noch alle? Jetzt aber raus hier!“ Insgesamt führte die Studie aber zu dem ernüchternden Ergebnis, daß die meisten anderen Fahrgäste tatenlos wegsehen.
Das Vorurteil, daß gut gefüllte U-Bahnen sicherer seien als halbleere, wurde von dem Versuch widerlegt. Das Gegenteil sei der Fall, berichtete Valeria Borbonus: „Die Leute tauchen in der Anonymität der Masse unter.“ Die Sensibilität sei durchaus vorhanden, aber die Menschen trauten sich nicht einzugreifen, weil es ihnen peinlich sei oder weil sie Angst hätten. Dabei sei es gerade zu einem frühen Zeitpunkt relativ einfach, zu handeln und den Belästiger zu verunsichern. Auch die Belästigte selbst sollte sich nicht scheuen, direkt um Hilfe zu bitten, am besten indem sie eine Person direkt anspricht, beispielsweise mit: „Sie in der roten Jacke, helfen Sie mir bitte!“
Die StudentInnen hoffen, daß sie mit ihrer Studie auch die BVG zum Handeln veranlassen können. Die hätten sich bisher zwar mit dem Thema „Gewalt in der U- Bahn“ befaßt, aber sexuelle Belästigung sei bisher ein „Nichtthema“, meinte Peter Grottian.
Die Arbeitsgruppe schlägt der BVG unter anderem vor, statt der riesigen Werbeplakate in den U- Bahnhöfen überall „Gebrauchsanweisungen für Eingriffsmöglichkeiten“ aufzuhängen. Stephanie v. Oppen
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