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Gegen die Trivialisierung der Literatur

■ betr.: „Hurra dem Giftgas“ (John Careys Untersuchung über den „Haß auf die Massen“), „Kein Ei land des Elitemenschen“, taz vom 15./16. 6. 96

[...] Eine der Kernfragen, um die Careys Überlegungen kreisen, lautet: „Hat ein Schriftsteller tatsächlich das Recht, nur für einen kleinen Zirkel zu schreiben?“ Nein, denn das sei unverantwortlich – „genauso unverantwortlich wie ein Doktor, der nur Reiche behandelt“.

Einmal angenommen, es gebe genügend Ärzte, und eine medizinische Versorgung auch der Armen sei vollständig gewährleistet? Wäre das Verhalten dieses Arztes dann immer noch unverantwortlich zu nennen? Wohl kaum. Das heißt auf den literarischen Markt gewendet: Wenn sich 95 Prozent der zur Zeit verkauften Literatur einem naiven Realismus verschreiben (die Zahl ist wohl nicht zu hoch gegriffen), mithin alle Leser, die es nach verständlicher Lektüre verlangt, mehr als ausreichend bedient, ja von der Fülle des Angebots nachgerade überfordert werden, kann ich an den bescheidenen fünf Prozent jener Werke, die sich elitär gebärden, indem sie ihren Leser fordern, bisweilen vielleicht überfordern, absolut nichts Unverantwortliches finden. Im Gegenteil: Es besteht die schiere Notwendigkeit für eine solche rätselhafte, hermetische, vom ästhetischen Anspruch her elitäre Dichtung, die nur von Wenigen gelesen und von einer Handvoll überhaupt verstanden wird. Nehmen wir beispielsweise solche Poeme, die durch ihren Anspielungsreichtum für die Mehrzahl der Leser dunkel bleiben müssen, den literarhistorisch Bewanderten indessen ein hohes Maß an Amüsement versprechen. Warum sollte sich ein Literaturkenner unter seinem Niveau amüsieren müssen? Oder wie steht es mit einem existentiell verantworteten Elitarismus: der selbstauferlegten Pflicht, enigmatisch zu schreiben, weil man – wie etwa Paul Celan – künstlerisch mit einer Sprache umgeht, die auch die Sprache der Mörder war. Von sprachphilosophischen Spitzfindigkeiten einmal ganz abgesehen, wonach der Literatur die Aufgabe zukommt, das Sein hinter dem Schein ansichtig werden zu lassen, was die Sprache des Alltags naturgemäß nicht leisten kann, weil sie nur die von unserer Ratio reduzierte Realität zu bezeichnen imstande ist.

Verständlichkeit und Breitenwirksamkeit ist Careys oberstes Gebot. Für Joyce hegt er zwar Sympathien, weil er mit Leopold Bloom den Alltagsmenschen par excellence schuf und nicht mit Verachtung strafte, bedauert aber zugleich, „daß er nicht für den Menschen von nebenan schrieb“. Soviel Naivität entwaffnet. [...] Natürlich konnte Joyce gar nicht anders als so zu schreiben, wie er schrieb, weil er ganz unabhängig von ethisch-moralischen Fragen (also auch der, ob es zu den Aufgaben des Künstlers gehöre, als Präzeptor der Massen zu wirken) vornehmlich ein ästhetisches Paradigma im Kopf hatte. Genau das meint Oscar Wilde, wenn er sagt, daß die Ästhetik über der Ethik stehe. Und etwas anderes darf man von einem Künstler auch nicht erwarten, der seine Sache ernst nimmt. Denn ein gelungenes Gedicht überzeugt uns nicht durch Humanität, jedenfalls nicht als Gedicht, sondern einzig und allein durch die ästhetische Konstruktion. Man kann das bedauern. Literaturkritik wäre sicher einfacher, wenn Ethik und Ästhetik zusammenfielen, wenn ein beeindruckendes Kunstwerk ohne die einwandfreie moralische Gesinnung nicht zu denken wäre. Daß es gedacht werden muß, zeigen Gedichte von Benn, George, Borchardt und anderen, zeigt aber auch der umgekehrte Fall: Wenn uns nämlich die ethisch tadellose Kolportage eines Simmel nicht den rechten Kunstgenuß verschafft. [...]

Solange wir selbst an der Darstellung der Folter wie in Kafkas „Strafkolonie“ ästhetischen Genuß empfinden (so zynisch das klingt), soll mir keiner weismachen, es gäbe eine kausale Verbindung zwischen der ethischen und ästhetischen Funktion von Dichtung. Wer wo etwas versucht, wie Carey, indem er fordert, Ethik müsse die Ästhetik durchdringen, tut dies auf Kosten einer differenzierten Analyse. Seine These, ein Antisemit wie Eliot könne kein großer Künstler sein, weil er dann große antisemitische Literatur geschaffen hätte, ist purer Nonsens, weil sein Antisemitismus am Gelingen des Kunstwerks überhaupt keinen Anteil hat. Das heißt freilich nicht, daß man ein Gedicht mit antisemitischem Gehalt nicht auch ablehnen könnte, jedem steht frei, dies zu tun: aber eben nicht mit ästhetischen Argumenten, sondern mit ethisch-moralischen. Frank Schäfer

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