■ Trotz Tibet und Menschenrechtsverletzungen: Pekings Politik ist viel rationaler als im Westen meist vermutet
: Keine Angst vor China!

Bei den westlichen Staatsleuten Angst vor dem Chaos zu schüren, gehört seit der Niederschlagung der Demokratiebewegung in China zu den Lieblingsbeschäftigungen der chinesischen Machtelite. „Wir oder das Chaos“ – eine suggestive Alternative, auch für westliche Investoren. Im Frühjahr 1990 stellte Deng Xiaoping in gewohnt drastischer Manier ausländischen Besuchern in Peking vor Augen, wie sie wohl reagierten, wenn im Gefolge eines Bürgerkrieges 10 Millionen Chinesen nach Thailand, 100 Millionen nach Indonesien und nur 500.000 nach Hongkong fliehen würden. Um dies zu vermeiden, gelte es, die Stabilisierungspolitik der chinesischen Regierung zu unterstützen. Und Stabilisierung – das heißt nun mal nicht nur ökonomische Reform und Öffnung, sondern auch das vierfache „Festhalten: an der „demokratischen Diktatur“, an der „führenden Rolle der Partei“, am „sozialistischen Entwicklungsweg“ und am Marxismus-Leninismus der Mao-Tse-tung-Ideen“.

In den seit dieser Rede vergangenen fünf Jahren hat der ökonomische Reformkurs seine Dynamik vervielfacht, auch im internationalen Handel. Die Volksrepublik ist heute unwiderruflich in den Weltmarkt verflochten. Hinsichtlich des „vierfachen Festhaltens“, also der Stabilität des politischen Systems, ist der Befund weniger eindeutig. Die Ökonomie unterspült langfristig die Fundamente der repressiven Herrschaft, im Klima des „Bereichert Euch“ fällt die von Askese und Opferbereitschaft durchtränkte Ideologie des chinesischen Kommunismus auf dürren Boden. Korruption und Nepotismus, die notwendigen Begleiterscheinungen der vom Partei-Staat in Gang gesetzten und kontrollierten kapitalistischen Entwicklung, haben das Ansehen der kommunistischen Kader zersetzt. Hinter der Fassade des „chinesischen Wegs zum Sozialismus“ entfalten sich die Widersprüche von Politik und Ökonomie.

Dennoch lügen sich die chinesischen Machthaber mit ihrem Fetisch Stabilität nicht in die eigene Tasche. Die Furcht vor dem Zerfall des Reiches, vor den Bürgerkriegswirren, die die Geschichte Chinas von demokratischen Revolution 1912 bis zur Machtübernahme der Kommumnisten 1949 bestimmte, ist eine Grundkonstante des kollektiven Gedächtnisses. Deshalb ist jede westliche Politik China gegenüber geradezu gezwungen, auf diese Konstante Rücksicht zu nehmen. Sie muß auf friedlichen Systemwandel setzen, das heißt aber auch, sie muß nolens volens diejenigen Kräfte in der herrschenden Machtelite unterstützen, die auf rechtsförmige Verfahren, die Trennung von Partei- und Staatsfunktionen, auf Regionalisierung und begrenzte Selbstverwaltung setzen. Was Hilfe für die konsequenten Demokraten, was den Einsatz für die Menschenrechte überhaupt nicht ausschließt.

Entgegen einigen Lieblingsannahmen westlicher Kommentatoren existiert in China kein Schematismus, nach dem an die Stelle der moribunden Staatsideologie ein rabiater Nationalismus treten muß. Weder rüstet China übermäßig auf noch existiert ein chauvinistischer militärisch-industrieller Komplex. Chinas Machtdemonstrationen in der Straße von Taiwan, die unnachgiebige Haltung in bezug auf die Spratly-Inseln bewegen sich im Rahmen des Kampfs um die Bewahrung der Reichseinheit. Die chinesische Führung hat bewiesen, daß sie in territorialen Fragen – gegenüber Rußland oder Indien – zu Kompromissen bereit ist. Der chinesische Waffenhandel dient nicht der ideologischen Einflußnahme, sondern, gut kapitalistisch, dem Profit. Erst recht hat sich die chinesische Führung bislang nicht, wie Samuel Huntington ganz zu Unrecht vermutet, mit fundamentalistischen Strömungen in der Dritten Welt verbündet. Gewiß, seit Beginn der 90er Jahre orientiert man sich stärker auf traditionelle Verbündete in der Dritten Welt. Wie begrenzt dies aber ist, zeigte sich im Weltsicherheitsrat der UNO, wo die chinesische Delegation der USA-geleiteten Intervention in Kuweit keine Hindernisse in den Weg legte.

Eine „antiwestliche“, auf eine „eurasische“ Koalition mit Rußland ausgerichtete Politik mag sich im Funktionärskorps der KP Chinas finden, sie hat aber kein Massenfundament. Man muß solche Ideologien, wie sie sich in dem jüngst erschienen Pamphlet „China kann Nein! sagen“ manifestiert, scharf von der Geisteshaltung trennen, die vor der Zerstörung der traditionellen chinesischen Lebenswelt angesichts der Dampfwalze des westlichen Konsumismus warnt. Diese Haltung führt zurück auf die Maxime der späten Kaiserzeit, „westliches nur zum Gebrauch, das chinesische Erbe dagegen als Substanz“. Es geht nicht darum, die Stimmigkeit dieser Idee, über die in China schon lange gestritten wird, zu untersuchen. Das Beispiel Singapurs, auf das heute von den Anhängern der Substanzbewahrung vorzugsweise verwiesen wird, zeigt zwar einen polizeistaatlich zurechtgemodelten Konfuzianismus, aber gleichzeitig den Triumph „westlicher“ Zivilisation.

Es wäre auch ganz verfehlt, der „chinesischen Mentalität“ ein Schwanken zwischen „Größenwahn“ und „Minderwertigkeitsgefühlen“ zu unterstellen. Solche Kategorien kollektiver Hysterie hatten und haben in Zusammenhängen Berechtigung, wo es um unbewältigte „durchschnittliche“ Aufgaben des Nationalstaats geht – also in Mitteleuropa bis 1945 und in Südosteuropa bis heute. Die chinesische Führung hat seit Beginn der Reformpolitik klargemacht, daß die Stellung Chinas als Großmacht sich in dem Maße festigen werde, wie sein ökonomisches Gewicht zunehmen wird. Ökonomische Schwäche wird also gerade nicht gegen kulturelle oder militärische Größe ausgespielt. Womit der „hysterischen“ Disposition der Boden entzogen wird.

In der vieldiskutierten Fernsehdokumentation Su Hsiao Kangs, „Elegie auf einen Fluß“, vor zehn Jahren in China mehrfach ausgestahlt, lösen sich die gelben Lößmassen des Hoang-Ho im Azur- Blau des Pazifiks auf. Also gegen den „Sinozentrismus“ und für die Öffnung zur Welt. Es spricht viel dafür, daß diese Allegorie die „Haupttendenz“ der chinesischen Entwicklung erfaßt. Keine Angst vor China! Christian Semler