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Poesie über die Paradoxie des fünften Kontinents

■ Der australische Lyriker John Kinsella las an der Universität aus seinen eigenwilligen Naturgedichten

Australien ist anders – dem verklärenden Klischee von der unverdorbenen, weiten Landschaft begegnen die Gedichte des jungen australischen Lyrikers John Kinsella. Er wurde 1963 in Perth geboren, im „wild west“, wo der nächste Nachbar hundert Meilen entfernt wohnt, wo der Mensch die Landschaft zunehmend verformt, wo jeder bewaffnet herumläuft. Seine Poesie erfaßt die Paradoxien des fünften Kontinents. Kinsellas Gedichte sind Einladungen in ein anderes Australien. In „Tide Table“ heißt es: „We have arrived nowhere/but hope to move on.“

In Kinsellas vielen Naturgedichten scheint neben dem Schreiben vor allem das Wasser sein Element zu sein, bedrohlich und verlockend zugleich: „On my desk it is the surface/of both a paddle or an ocean./As they say, you can drown in both.“ Undertow, Unterströmung, heißt denn auch seine jüngst erschienene Gedichtsammlung. Kinsella sieht ganz genau hin: Er betrachtet nicht nur die Landschaften seiner Heimat und die Veränderungen seiner Umwelt, sondern setzt das schreibende Ich, den eigenen Schreibprozeß, in Beziehungen zu seinen Beobachtungen und Empfindungen. Ein Freund hat sich ertränkt, wie kann Kinsella diesen Tod begreifen und seinen Schmerz zum Sprechen bringen? „State-changing: vaporous/liquid, solid/(...) death/a notion of the surface.“

Bei der Lesung wirkte Kinsellas druckvolles Sprechen, als entströmten ihm die Gedichte: Schon seine Mutter schrieb, und für ihn stand außer Zweifel, Schriftsteller zu werden. Wieviel er den amerikanischen Lyrikern, vor allem Robert Frost und John Ashbery, verdankt, läßt er immer wieder anklingen. Sein „Self-Portrait Without Glasses“ spielt ironisch mit Ashberys „Selbstportrait im konvexen Spiegel“ und mit den eigenen Wahrnehmungsweisen, denn es beschreibt, wie Kinsella die vertraute Welt ohne seine Fünf-Dioptrin-Sehhilfe erscheint.

John Kinsellas Sound ist eigen. Hört man ihm zu, „it does not take/long to get back/into the swing of things.“ Diese im doppelten Wortsinn „bewegenden“ Gedichte werden nächstes Jahr auch auf deutsch vorliegen.

Frauke Hamann

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