: Von der erträglichen Leichtigkeit des Seins
■ Die Menschen in Prag sehen es gelassen: Ob ihre Mannschaft die EM gewinnen wird oder die deutsche: Hauptsache, das Spiel wird schön
Gestern waren die Tschechen müde. Gäbe es die Touristen nicht, die Restaurants in der Altstadt wären leer. Und auch der Wenzelsplatz, auf dem nach dem Einzug ins Finale Nationaltrainer Dušan Uhrin zum Staatspräsidenten ausgerufen wurde, gehört nun wieder der russischen Mafia. Erst am Rande des historischen Zentrums, dort wo ein Bier nicht mehr 70, sondern nur noch 15 Kronen (etwa 90 Pfennig d. Red.) kostet, sind die Kneipen voller.
In einer Seitengasse der Revolutionsstraße haben die Fans des ehemaligen Nationalspielers Tomáš Skuhravý ihren Treffpunkt. Bei der WM 1990 war er der Held der Tschechen, doch heute ist auch in seiner Stammkneipe Fußball kaum noch ein Thema. Auf die Frage, wer das Endspiel gewinnen wird, will sich niemand festlegen. An der Theke steht Miloš, irgendwann einmal Verteidiger beim Zweitligisten Přibram. Ist ein Spiel gegen Deutschland etwas anderes als gegen Frankreich? Sicher, denn die Deutschen sind besser. Auch besser als die Tschechen.
Miloš' Antwort ist typisch. Sosehr man auch nach einer politischen, einer nationalen Dimension der Auseinandersetzung zwischen dem kleinen Tschechien und dem großen Deutschland suchen mag, man findet sie nicht. Der unendliche Streit um die gemeinsame Vergangenheit, die Angst vor einem Ausverkauf der tschechischen Industrie, hier spielen sie keine, aber auch gar keine Rolle. „Es ist gut, daß unsre Spieler in Deutschland Geld verdienen“, meint Miloš.
Und der Siegesrausch der Prager Fußballnächte? Der Stolz der Kommentatoren auf „unsere Jungs“, die für das Ansehen der kleinen Nation „wichtiger sind als alle Wirtschaftskontakte“? War Sport für die Tschechen nicht immer nation- und identitätstiftend? So wollte etwa die militante Turnbewegung Sokol in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts gegen Preußen in den Krieg ziehen. Den Fußballjubel zu Füßen des Heiligen Wenzel vergleichen heute viele mit der Silvesterfeier des Jahres 1992. Damals feierte Prag die Geburt der Tschechischen Republik, nun begießt man die Rückkehr auf die internationale Fußballbühne. Und doch ist etwas anders. Die Wut auf die untreuen Slowaken hat einer sehr erträglichen Leichtigkeit des Seins Platz gemacht. „Schickt Havel einen Zahnarzt“, skandierten die 3.000, die nach dem Sieg über Frankreich auf die Burg zogen und eine Ansprache des unter Zahnschmerzen leidenden Präsidenten forderten. Der Witz der samtenen Revolution hat die Tschechen wieder. Und so wie sie damals mit ihren Schlüsseln das Ende des Kommunismus einläuteten, skandierten sie nun den Namen des gegnerischen Torwarts Köpke. Denn dieser hatte ihnen mit seinem Einsatz im Spiel gegen Italien schließlich den Einzug ins Viertelfinale gesichert.
Überraschenden Sinn für Leichtigkeit zeigte auch Premierminister Václav Klaus. Während sich der überzeugte Tennisspieler um den proletarischen Fußball sonst wenig kümmert, ließ er nun die kurz vor dem Abschluß stehenden Verhandlungen über die tschechische Regierung unterbrechen und kommentierte: „Die Mannschaft hat wahrlich untschechisch gespielt, souverän und selbstbewußt.“ Am Endspiel in London teilzunehmen, dazu konnte er sich vorerst jedoch nicht durchringen.
Havel aber wird da sein. Und mit ihm einige tausend Tschechen, die am Tag nach dem siegreichen Halbfinale die Reisebüros des Landes stürmten. Dabeisein ist tatsächlich alles, und die 90 Minuten im Wembley-Stadion haben viele Fans inzwischen zu „dem Ereignis ihres Lebens“ erklärt. Flugzeuge sind auf dem tschechischen Markt daher derzeit nicht mehr zu haben, der eintägige Trip kostet bis zu 15.000 Kronen. Drei Monatseinkommen für einen Lehrer, ein halbes für einen Taxifahrer.
Aber auch für alle Nichttaxifahrer ist gesorgt: Auf dem Altstadtring werden zwei Großleinwände installiert, und die Kneipenwirte sind dabei, neue Fernseher zu montieren. Auch das hat sich geändert: Während die meisten Tschechen das erste Spiel gegen die deutsche Nationalmannschaft zu Hause verfolgten, sucht man nun die öffentliche Umarmung. Egal ob Sieg oder Niederlage. Sabine Herre, Prag
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen