: Zwischen Realität und Utopie
Gesundheit ist immer noch eine Frage des Geldes: Arme Menschen sterben früher ■ Von Raimund Geene
Aufbruchstimmung herrschte im Gesundheitsbereich in den achtziger Jahren: 1986 hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) im kanadischen Ottawa eine neue Definition der Gesundheit beschlossen, die sich nicht mehr auf die Abwesenheit von Krankheit beschränkte, sondern nach „physischem, psychischem und sozialem Wohlbefinden“ verlangt. In diesem ganzheitlichen Konzept wird eine „gesundheitsfördernde Gesamtpolitik“ angestrebt, die alle Lebensbereiche umfassen soll, indem Gemeinschaftsaktionen unterstützt und dem einzelnen die Möglichkeit eröffnet wird, seine persönlichen Kompetenzen zu entwickeln.
Zehn Jahre später kamen in Celle knapp 300 ExpertInnen aus Gesundheitsförderung und Gesundheitspolitik, von Selbsthilfegruppen, Krankenkassen, Krankenhäusern und anderen Versorgungseinrichtungen zusammen, um unter der Fragestellung „Gesundheitsförderung zwischen Utopie und Realität“ Bilanz zu ziehen, wie weit dieser Gesundheitsbegriff in Deutschland Einzug gehalten hat. Rolf Rosenbrock vom Berliner Wissenschaftszentrum sieht in der Ottawa-Charta den Impuls, den gesundheitspolitischen Reformstau der siebziger Jahre zu beseitigen, in dem Krankheiten präventiv vorgebeugt wird – Gesundheitsförderung also als die Modernisierung im Gesundheitswesen schlechthin. Erfolgsbeispiele sieht er in einer abwägenden Aids-Politik, in der betrieblichen Gesundheitsförderung und der Etablierung der acht gesundheitswissenschaftlichen Public-Health-Studiengänge und Forschungsverbünde, denn, so betonte Rosenbrock in Abgrenzung des Vorwurfs vom Denken im Elfenbeinturm, „Wissenschaft ist und bleibt eine starke Steuerungsressource“ – doch einschränkend schiebt er nach, daß sie aber nicht „gefeit ist gegen die kurzfristigen Begehrlichkeiten der Politik“.
Solche Entwicklungen – der aktuelle Vorstoß der Bonner Koalition, die Gesundheitsförderung aus dem Pflichtkatalog der Krankenkassen zu streichen – überschatteten die Tagung. In einer einstimmig verabschiedeten „Celler Erklärung“ wird statt Rücknahme eine Ausweitung der Gesundheitsförderung gefordert, notwendig seien „sozialkompensatorische Programme“, denn die Schere sozialer Ungleichheit vor Krankheit gehe, so Professor Friedrich Wilhelm Schwartz von der Medizinischen Hochschule Hannover, immer weiter auseinander: Arme Menschen haben in Deutschland gegenüber reichen eine bis zu fünf Jahren kürzere durchschnittliche Lebenserwartung, ihre Gefährdung z.B. für Krebs- oder Lebererkrankungen liege drei- bis fünfmal höher.
Doch der Protest gegen den Bonner Vorstoß, Gesundheitspolitik wieder auf die Behandlung von Krankheit zu reduzieren, stellte für die TeilnehmerInnen auch eine „Denkschleife“ dar, die innovative Ansätze weitgehend blockiert, wie Beate Blättner von der veranstaltenden Landesvereinigung für Gesundheit bedauerte. Querdenkend zur Diskussion um „versicherungsfremde Leistungen der Krankenkassen“, forderte sie die Umlenkung zumindest eines kleinen Teils der Tabak-, Alkohol- und Automobilsteuer für die Gesundheitspolitik, da die in diesen Bereichen verursachten Kosten auch von diesen getragen und nicht der Solidargemeinschaft aufgelastet werden sollten.
Andere Visionen entwickelte Helmut Hildebrandt, der als ehemaliger GAL-Abgeordneter der Hamburger Bürgerschaft das Gesunde-Städte- Programm als konkrete Umsetzung der Ottawa-Charta bundesweit maßgeblich vorangebracht hat und heute eine Firma für Privatconsulting betreibt. Hildebrandt malte das Bild eines öffentlichen Gesundheitsdienstes, der als Lizenzgeber in die Rolle des Kontrolleurs des expandierenden Gesundheitsmarktes schlüpft. Seine marketingorientierten Überlegungen stoßen jedoch in der sozialpolitisch orientierten Gesundheitsförderungsszene weitgehend auf Skepsis. Für die abschließende Podiumsdiskussion stellte sich Volker Grigusch vom Bundesgesundheitsministerium als Buhmann zur Verfügung. Ihm wurde vorgerechnet, daß eine Kürzung des Krankenversicherungsbeitrages um geplante 0,4 Prozent 10.000 bis 15.000 Arbeitsplätze in der Prävention vernichte, ohne einen neuen zu sichern, oder daß die Kreativität aus der Selbsthilfebewegung gekappt werde.
Nicht mehr mit dem Rücken zur Wand stehen, sondern aus der aktuellen Spardebatte einen Bumerang-Effekt auslösen wollen die Veranstalter mit einem breit vorbereiteten, bundesweiten Gesundheitskongreß im kommenden Jahr, um endlich eine öffentliche Diskussion über die Gesundheitspolitik in Deutschland auszulösen. Denn diese nehme in verschiedenen OECD-Vergleichen die untersten Ränge ein, betonte Schwartz. Und so geisterte auf den Gängen und in vielen Hinterköpfen wieder der Gedanke an die breite Gesundheitsbewegung Anfang der Achtziger, deren Wiederaufleben sehnlichst herbeigewünscht, aber vielleicht auch herbeigeredet wird.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen